Witwe für ein Jahr (German Edition)
herauszusuchen – nämlich einen Nachtrag zu seinem Testament. Frau Messerli war völlig ahnungslos auf diese Fotos gestoßen.
Als Harry in Zürich eintraf, hatte Frau Messerli noch immer keine Ahnung, was das Entscheidende an den Fotos dieser nackten Frauen war, die sie ihrem Scheidungsanwalt ausgehändigt hatte. Weder sie noch er hatten gemerkt, daß es sich um Fotos von Prostituierten handelte, die tot waren; sie interessierten sich nur dafür, daß die Frauen nackt waren.
Harry fiel es nicht schwer, Rooie auf dem Foto in Ernst Hechts Büro zu identifizieren; und Hecht erkannte sofort die ermordete brasilianische Prostituierte aus der Langstraße wieder. Überrascht allerdings waren beide Polizisten, daß es noch ein halbes Dutzend andere Fotos gab.
Die Schweizer Elektronik- und Sicherheitssysteme hatte Urs Messerli in ganz Europa herumgeschickt; er hatte Prostituierte in Frankfurt und Brüssel umgebracht, in Hamburg und Den Haag, in Wien und Antwerpen. Er hatte sie nicht immer auf dieselbe effektive Weise umgebracht, und er hatte seine Opfer auch nicht immer mit demselben Scheinwerfer aus seiner dicken, ledernen Aktentasche beleuchtet, aber er hatte die toten Frauen immer in ähnlicher Pose fotografiert: Sie lagen auf der Seite, hatten die Augen geschlossen und die Knie verschämt wie kleine Mädchen an die Brust gezogen, weshalb Messerlis Frau (und ihr Anwalt) auch gar nicht geargwöhnt hatte, daß die nackten Frauen tot sein könnten.
»Sie können ihrer Zeugin gratulieren«, sagte Ernst Hecht zu Harry. Sie waren auf dem Weg ins Universitätsspital, um mit Urs Messerli zu sprechen, bevor er starb. Gestanden hatte er bereits.
»Und ob ich ihr gratulieren werde«, sagte Harry. »Vorausgesetzt, ich finde sie.«
Urs Messerlis Englisch war genau so, wie die geheimnisvolle Zeugin es beschrieben hatte: Er sprach gut, allerdings mit einem Akzent, der sich deutsch anhörte. Harry entschied sich dafür, mit Messerli englisch zu sprechen, zumal Ernst Hecht auch ziemlich gut Englisch konnte.
»In Amsterdam, in der Bergstraat …«, begann Harry. »Sie hatte rötlichbraunes Haar und eine gute Figur für eine Frau ihres Alters, aber ziemlich kleine Brüste …«
»Ja, ja … ich weiß!« unterbrach ihn Urs Messerli.
Eine Krankenschwester mußte ihm die Sauerstoffmaske abnehmen, damit er sprechen konnte; dann rang er nach Luft, ein saugendes Geräusch, bevor ihm die Schwester die Maske wieder über Mund und Nase stülpte.
Seine Haut war ungleich grauer als damals, als Ruth Cole ihn gesehen und mit einem Maulwurf verglichen hatte; inzwischen war sie aschfahl. Die erweiterten Lungenbläschen machten ihre eigenen Geräusche, unabhängig von seinen rauhen Atemzügen; es war, als könnte man das beschädigte Gewebe, das die Wände der Luftkammern überzog, zerreißen hören.
»Sie hatten in Amsterdam eine Zeugin«, erklärte Harry dem Mörder. »Ich nehme nicht an, daß Sie sie gesehen haben.«
Zum erstenmal gingen die verkümmert wirkenden Augen weiter auf – wie bei einem Maulwurf, der entdeckt, daß er sehen kann. Wieder entfernte die Schwester die Sauerstoffmaske. »Ja, ja, ich habe sie gehört! Da war jemand!« keuchte Messerli. »Sie machte ein ganz leises Geräusch. Ich konnte sie fast hören.« Er wurde von einem Hustenanfall geschüttelt. Wieder mußte die Schwester Mund und Nase mit der Maske bedecken.
»Sie stand im Wandschrank«, teilte Harry Messerli mit. »Sämtliche Schuhe waren umgedreht worden, so daß die Spitzen nach außen zeigten, und sie stand dazwischen. Wahrscheinlich hätten Sie ihre Knöchel erkennen können, wenn Sie genau hingeschaut hätten.«
Diese Mitteilung schien Messerli unsäglich traurig zu machen, so, als hätte er die Zeugin wenigstens gern kennengelernt – wenn nicht gar umgebracht.
Dieses Gespräch fand im April 1991 statt, sechs Monate nach dem Mord an Rooie, ein Jahr nachdem Harry Hoekstra beinahe mit Dolores de Ruiter nach Paris gefahren wäre. An diesem Abend in Zürich wünschte sich Harry, er hätte es getan. Er hätte nicht in Zürich zu übernachten brauchen, sondern noch am selben Tag nach Amsterdam zurückfliegen können, aber nun wollte er einmal etwas tun, was er bisher nur in Reiseführern gelesen hatte.
Er lehnte Ernst Hechts Einladung zum Abendessen ab, denn er wollte allein sein. Wenn er an Rooie dachte, war er nicht ganz allein. Er hatte sich sogar ein Hotel ausgesucht, das Rooie gefallen hätte. Es war zwar nicht das teuerste Hotel in Zürich, aber für
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