Witwe für ein Jahr (German Edition)
einen Polizisten war es zu teuer. Doch Harry war so selten verreist, daß er ein schönes Sümmchen gespart hatte. Er erwartete nicht, daß seine Dienststelle das Zimmer im Hotel Zum Storchen zahlte, auch nicht eine Übernachtung, aber dort wollte er absteigen. Es war ein bezaubernd romantisches Hotel am Ufer der Limmat, und Harry entschied sich für ein Zimmer, von dem aus man über den Fluß auf das beleuchtete Rathaus sah.
Zum Abendessen ging er in die Kronenhalle, auf der anderen Seite der Limmat. Hier hatte schon Thomas Mann gespeist – und James Joyce. Es gab zwei Gasträume mit Originalgemälden von Klee, Chagall, Matisse, Miró und Picasso. Rooie hätte das kaltgelassen, aber das Bündner Fleisch und die geschnetzelte Kalbsleber mit Rösti hätten ihr geschmeckt.
Für gewöhnlich trank Harry nichts Stärkeres als Bier, aber an diesem Abend in der Kronenhalle trank er vier Bier und eine ganze Flasche Rotwein. Als er in sein Hotelzimmer zurückkehrte, war er betrunken. Er hatte noch die Schuhe an, als er einschlief, und erst nachdem Nico Jansen ihn mit seinem Anruf geweckt hatte, zog er sich richtig aus.
»Erzähl schon«, sagte Jansen. »Der Fall ist abgeschlossen, habe ich recht?«
»Ich bin betrunken, Nico«, antwortete Harry. »Ich habe schon geschlafen.«
»Erzähl mir trotzdem, wie es war«, sagte Nico Jansen. »Das Schwein hat also acht Nutten umgebracht, jede in einer anderen Stadt, stimmt’s?«
»Stimmt. In ein paar Wochen ist er tot, hat sein Arzt gesagt«, berichtete Harry. »Er hat eine schwere Lungeninfektion. Außerdem hat er seit fünfzehn Jahren ein Emphysem. Hört sich vermutlich ähnlich an wie Asthma.«
»Du klingst so fröhlich«, meinte Jansen.
»Ich bin betrunken«, wiederholte Harry.
»Du solltest glücklich und betrunken sein, Harry«, erklärte Nico. »Der Fall ist abgeschlossen.«
»Bis auf die Zeugin«, sagte Harry Hoekstra.
»Du mit deiner Zeugin«, sagte Jansen. »Laß sie laufen. Wir brauchen sie nicht mehr.«
»Aber ich habe sie gesehen«, erwiderte Harry. Erst als er das sagte, wurde ihm klar, daß sie ihm deshalb nicht mehr aus dem Kopf ging. Was hatte sie vorgehabt? Sie war eine bessere Zeugin, als ihr vermutlich bewußt war, dachte Harry. Aber zu Nico Jansen sagte er nur: »Ich möchte ihr bloß gratulieren.«
»Lieber Himmel, du bist wirklich betrunken!« meinte Jansen.
Harry versuchte, im Bett zu lesen, war aber zu betrunken, um aufzunehmen, was er las. Der Roman, der sich als passable Flugzeuglektüre erwiesen hatte, war ihm in seinem augenblicklichen Zustand zu anspruchsvoll. Es war der neue Roman von Alice Somerset, ihr vierter. Und vermutlich der letzte ihrer Margaret-McDermid-Krimis, denn der Titel lautete McDermid im Ruhestand.
Obwohl Harry Hoekstra Kriminalromane für gewöhnlich nicht ausstehen konnte, war er ein großer Fan der alten kanadischen Autorin. (Eddie O’Hare freilich hätte zweiundsiebzig – so alt war Alice Somerset alias Marion Cole im April 1991 – nicht als »alt« empfunden.)
Harry gefielen die Margaret-McDermid-Romane deshalb, weil er fand, daß die Beamtin von der Vermißtenstelle einen für eine Polizistin überzeugenden melancholischen Zug besaß. Außerdem waren Alice Somersets Romane eigentlich keine Kriminalromane, sondern psychologische Studien, die sich mit dem beschäftigten, was in einer einsamen Polizistin vorging. Für Harrys Empfinden zeigten sie glaubwürdig, welche Auswirkungen die vermißten Personen auf Sergeant McDermid hatten – diejenigen natürlich, die sie nicht ausfindig machen konnte.
Obwohl Harry zu jener Zeit noch mindestens viereinhalb Jahre bis zu seiner Pensionierung hatte, baute es ihn nicht auf, ein Buch über eine Polizistin zu lesen, die bereits im Ruhestand war – zumal das Entscheidende an diesem Roman war, daß sie auch weiterhin so dachte wie eine Polizistin.
Sie wird zur Gefangenen jener Fotos der beiden verschollenen amerikanischen Jungen. Sie bringt es nicht übers Herz, diese Fotos zu vernichten, obwohl sie weiß, daß man die Jungen nie finden wird. »Eines Tages, so hoffte sie, würde sie den Mut aufbringen, sie zu zerreißen.« (Mit diesem Satz endete der Roman.)
Sie hoffte es? dachte Harry. Und das war’s dann? Sie hoffte es nur? Scheiße! Das ist doch kein richtiger Schluß! Niedergeschlagen und noch immer wach, betrachtete Harry das Foto der Autorin. Es ärgerte ihn, daß man nie einen richtigen Eindruck davon bekam, wie Alice Somerset aussah. Immer hatte sie das Gesicht
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