Wo die Nacht beginnt
erinnern wird, was Ihr getan habt, oder welche Schmerzen ihr dabei zugefügt wurden?«
»Sie wird sich an nichts erinnern, bis auf das unbestimmte Gefühl, dass etwas, das sie früher besaß, verlorenging.« Champier strich wieder über meine Stirn. Er stutzte. »Aber das ist äußerst merkwürdig. Warum hat ein Manjasang sie mit seinem Blut gezeichnet?«
Dass ich in Philippes Clan aufgenommen worden war, zählte zu den Erinnerungen, die ich keinesfalls mit Champier teilen wollte. Genauso wenig wollte ich, dass er in meinen Erinnerungen an meine Lehrzeit in Yale, an Sarah und Em oder Matthew wühlte. An meine Eltern. Meine Finger krallten sich in die Armlehnen des Sessels, während ein Vampir meinen Kopf festhielt und ein Hexer sich daranmachte, meine Gedanken zu sichten und zu stehlen. Doch kein Hauch eines Hexenwindes, kein Hexenfeuer kam mir zu Hilfe. Meine Kräfte waren praktisch erloschen.
»Ihr selbst habt diese Hexe gezeichnet.« Champier sah Philippe scharf an.
»Ja.« Philippe bot ihm keine Erklärung an.
»Das verstößt gegen alle Regeln, Sieur. « Seine Finger tasteten sich tiefer in meinen Geist vor. Champier riss verblüfft die Augen auf. »Aber das ist unmöglich. Wie kann sie durch die Zeit …« Er schnappte nach Luft und sah auf seine Brust.
Der Griff eines Dolches ragte zwischen Champiers Rippen hervor, und die Klinge steckte tief in seiner Brust. Meine Finger hatten sich fest um das Heft geschlossen. Als Champier ihn herausziehen wollte, trieb ich die Klinge noch tiefer. Die Beine des Hexers knickten ein.
»Lass es gut sein, Diana«, befahl Philippe und löste meine Hand. »Er wird sterben, und wenn er stirbt, wird er fallen. Du kannst keinen Toten halten.«
Aber ich konnte den Dolch unmöglich loslassen. Noch war der Mann am Leben, und solange Champier atmete, würde er mir nicht nehmen, was mir gehörte.
Über Champiers Schulter erschien ein weißes Gesicht mit tintenschwarzen Augen, dann knickte eine kraftvolle Hand den schlaffen Kopf so heftig zur Seite, dass Knochen und Sehnen knackten. Matthew beugte sich über die Kehle des Mannes und trank in vollen Zügen.
»Wo hast du gesteckt, Matthew?«, fuhr Philippe ihn an. »Du musst dich beeilen. Diana stach zu, bevor er seinen Gedanken zu Ende bringen konnte.«
Während Matthew trank, kamen Thomas und Étienne in den Raum gestolpert, gefolgt von einer benommenen Catrine. Alle blieben perplex stehen. Alain und Pierre warteten im Flur mit dem Schmied, dem Koch und den beiden Soldaten, die sonst am Haupttor Wache standen.
» Vous avez bien fait«, versicherte Philippe ihnen. »Es ist vorbei.«
»Ich sollte doch überlegen.« Meine Finger waren taub, trotzdem konnte ich sie nicht von dem Dolch lösen.
»Und überleben. Was du auf bewundernswerte Weise geschafft hast«, erwiderte Philippe.
»Er ist tot?«, krächzte ich.
Matthew löste seine Lippen vom Hals des Hexers.
»Ganz eindeutig«, urteilte Philippe. »Nun, ich schätze, damit gibt es einen vorwitzigen Kalvinisten weniger, um den wir uns sorgen müssen. Hat er seinen Freunden erzählt, dass er herkommen wollte?«
»Nicht soweit ich feststellen konnte«, sagte Matthew. Er sah mich an, und seine Augen färbten sich langsam wieder grau. »Diana. Liebes. Lass mir den Dolch.« Ich hörte irgendwo in weiter Ferne Metall auf den Boden klappern, gefolgt von einem dumpfen Aufprall, mit dem André Champiers sterbliche Überreste aufkamen. Gnädig kühle, vertraute Hände umfassten mein Kinn.
»Er hat etwas in Diana entdeckt, das ihn überrascht hat«, sagte Philippe.
»Das habe ich gesehen. Aber die Klinge durchbohrte sein Herz, ehe ich herausfinden konnte, was es war.« Matthew zog mich liebevoll an seine Brust. Da meine Arme völlig kraftlos waren, leistete ich keinen Widerstand.
»Ich – ich konnte nicht mehr denken, Matthew. Champier wollte mir die Erinnerungen rauben – sie mit der Wurzel ausreißen. Aber Erinnerungen sind alles, was mir von meinen Eltern geblieben ist. Und was wäre gewesen, wenn ich meine historischen Kenntnisse vergessen hätte? Wie hätte ich danach heimkehren und wieder unterrichten können?«
»Du hast richtig gehandelt.« Matthew hatte einen Arm um meine Taille geschlungen. Der andere lag um meine Schultern und drückte meine Wange an seine Brust. »Woher hattest du den Dolch?«
»Aus meinem Stiefel. Offenbar hat sie gesehen, wie ich ihn gestern zog«, erwiderte Philippe.
»Siehst du? Du hast sehr wohl überlegt, ma lionne.« Matthew drückte seine
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