Wo ich zu Hause bin
nach rückwärts und erstarren. Weil wir mit der Heimat uns selbst verloren haben, machen wir nirgends halt. Wir müssen immer weiter. Es ist kein romantisches Wandern durch eine vertraute Landschaft, wie es die Romantiker beschrieben haben. Vielmehr sind wir zur »Winter-Wanderschaft verflucht«. Es ist ein Wandern in der Kälte und Wüste dieser Welt. Wir können nichtmehr wirklich singen, unser Herz im Gesang ausdrücken. Nur im Ton eines Wüstenvogels vermögen wir noch zu schnarren. Wir zeigen unser Herz nicht mehr. Es ist zu verwundet. Wir verstecken es in Eis und Hohn. In dieser Kälte kann nur der bestehen, der »jetzt noch – Heimat hat«, wie es die erste Strophe ausdrückt. Doch Nietzsche wendet sich in der letzten Strophe an die, die die Heimat verloren haben: »Weh dem, der keine Heimat hat!« Das gilt nicht nur von den Heimatvertriebenen, die durch Krieg aus ihrer Heimat fliehen mussten. Wir alle sind letztlich Heimatvertriebene, vertrieben aus unserer inneren Heimat. Wer sich selbst verloren hat, für den wird alles um ihn herum kalt und trostlos.
Dem pflichtet der Schriftsteller Horst Bienek bei. Er sagt: »Keine Heimat zu haben, ist ein Verlust, daran ist nichts zu deuteln.« 15 Und er zitiert seinen österreichischen Kollegen Jean Améry, der in seinem Essay »Wieviel Heimat braucht der Mensch?« mit Trauer geschrieben hat: »Die Heimat ist das Kindheits- und Jugendland. Wer sie verloren hat, bleibt ein Verlorener.« 16 Letztlich aber haben wir alle ein Stück unserer Heimat verloren. Denn wir können sie nicht festhalten. Wir mussten alle auswandern aus der Heimat, die für uns zugleich Kindheit war. Horst Bienek drückt es für sich so aus: »Kindheit ist Heimat. Und insofern bin ich ein Vertriebener (wie wir alle), seit ich aus der Kindheit vertrieben wurde und ein Erwachsener geworden bin.« 17 Und er meint, gerade weil man die Heimat verloren hat, muss man immer wieder darum ringen, sich an sie zu erinnern: »Wahrscheinlich muss man den Verlust tatsächlich spüren,an ihm leiden, um ihn in der Beschwörung der Wörter vergessen zu machen.« Und Bienek zitiert zustimmend Marcel Proust: »Die wahren Paradiese sind die verlorenen Paradiese.« 18 Das gilt wohl auch vom Sprechen von der Heimat. Wir sprechen über die Heimat immer als etwas, das einmal war, was wir verloren haben, oder aber als etwas, was noch nicht war, was aber – wie Ernst Bloch meint – in die Kindheit hineinschien, damit wir uns auf den Weg machen, die Heimat zu suchen, nach der wir uns im Herzen alle sehnen.
Immer wieder begegne ich Menschen, die mir davon erzählen, dass sie keine schöne Kindheit hatten, dass sie keine guten Heimatgefühle kennen. Sie können mit dem Lob der Heimat nichts anfangen. Andere haben als Kinder Heimat erlebt. Aber sie sind aus dieser Heimat herausgerissen worden. Jetzt haben sie den Eindruck, dass sie wurzellos sind, dass sie sich selbst verloren haben. Sie wissen nicht, wohin sie gehören, wo sie andocken können, wo sie so etwas wie Heimat suchen sollen. Ein therapeutischer Weg wäre sicher, diese Menschen in ihre innere Heimat zu führen, wie es in einem späteren Kapitel beschrieben wird. Aber allein der innere Raum als Heimat genügt nicht. Der Mensch braucht auch ein Stück Erde zur Heimat. Er muss auch an einem Ort daheim sein können. Manche fühlen sich aber dort, wo sie wohnen, nicht daheim. Für sie ist es oft der Urlaub, der sie an Lieblingsorte führt, in denen sie sich daheim fühlen. Es sind meist nicht Orte, die besondere Sehenswürdigkeiten auszeichnen. Vielmehr sind es Orte, die gastfreundlich sind, und Orte, an denen sie auch dieNatur als etwas Bergendes und Behütendes erfahren. Manche fahren im Urlaub dann auch oft dorthin, wo sie als Kind aufgewachsen sind. Aber oft sind diese Aufenthalte von Enttäuschungen geprägt. Sie finden nicht das, was sie gesucht haben.
Gut wäre, wenn wir nicht nur im Urlaub Orte hätten, an denen wir uns geborgen und daheim fühlen. Vielleicht gibt es in der unmittelbaren Umgebung meines Wohnortes einen Wald, der mich wie ein Mantel einhüllt, oder eine Wiese, auf der ich mich getragen fühle, oder eine Bank, von der aus ich in die Landschaft schaue und in diesem Blick Frieden und Geborgenheit erfahre. Oder aber ich kenne eine Kirche, in die ich mich gerne setze, um einfach da zu sein, getragen, eingehüllt in Gottes Liebe. Wir brauchen nicht nur die innere Heimat. Wir leben als Menschen in dieser Welt und brauchen in dieser Welt Orte, die uns
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