Woge der Begierde
Halbbruder war noch im Vorteil. Raoul hatte Monate, ja sogar Jahre Zeit gehabt, die Gegend hier zu erkunden. Der Kerker schien eine Sackgasse zu sein, aber was, wenn es noch mehr versteckte Türen gab? Geheimgänge? Raoul konnte sie genau in diesem Moment beobachten.
Ein Gefühl von Dringlichkeit überkam Charles, und er winkte den anderen, gab das Zeichen, jetzt zu gehen. Beinahe flüsternd sagte er: »Wir verlassen den Kerker auf demselben Weg, auf dem wir hergekommen sind. Ich werde vorne gehen, dann folgen Julian, Nell, Daphne und Marcus.«
Es gab keinen Einspruch. Charles lief fast die Stufen hoch, Julian war dicht hinter ihm, dann kam Nell. Nell war vielleicht auf der sechsten Stufe, als etwas - ein Geräusch? Instinkt? - sie stehen bleiben ließ. Sie schaute hinter sich in den leeren Aufgang. Daphne hätte dicht hinter ihr sein müssen … Nell erstarrte; sie hörte nur das Rauschen ihres Blutes, starrte zurück zu der nur schwach zu erkennenden Tür zum Kerker. Da war niemand. Keine Daphne, kein Marcus.
»Julian! Charles!«, rief sie. »Kommt her.«
Julian war sogleich an ihrer Seite, Charles direkt hinter ihm.
Mit zitternder Stimme stieß sie hervor: »Daphne und Marcus …«
Charles’ Blick flog zu den untersten Stufen, er versuchte, seine süße Frau allein mit der Kraft seiner Gedanken dort erscheinen zu lassen. Doch nichts geschah. Er drängte auf den engen Stufen Nell und Julian grob zur Seite, wusste, es war keine Zeit für Höflichkeit, sprang die Treppe hinab und stürzte in den Kerker.
Marcus lag auf dem Boden, sein Kopf in einer Pfütze hellroten Blutes, die Pistole in den schlaffen Fingern, die Laterne neben ihm. Unweit lag eine zweite Pistole. Charles wurde blass, als er erkannte, dass es Daphnes war.
Julian und Nell kamen in den Raum. Nell schrie auf, als sie Marcus sah. Sie sank neben ihm auf den Boden und bettete
seinen Kopf in ihrem Schoß. Behutsam tastete sie nach der Wunde an seinem Hinterkopf. Sie sah hoch zu den beiden Männern und sagte: »Er lebt, aber es ist eine hässliche Wunde.«
Charles schaute sich verzweifelt um. Kein Hinweis auf Daphne war zu sehen. »Eine Geheimtür«, flüsterte er und rang mit der grässlichen Furcht, die ihn zu überwältigen drohte. Raoul hatte Daphne in seiner Gewalt. Denk an sie, befahl er sich. Denk an Daphne. Du musst sie finden. »Es muss noch eine weitere Geheimtür hier geben«, rief er und lief zur nächsten Wand, starrte blindlings darauf.
Zuerst konnte er nichts finden, seine Suche war zu hastig, um irgendetwas zu nutzen. Er kämpfte darum, sich zu fassen, wusste, dass er Daphne nichts nützte, wenn er zuließ, dass das Entsetzen ihn überwältigte. Er schob seine Pistole in den Bund seiner Hose, holte tief Luft und trotz der Dringlichkeit, des Gefühls der Eile, zwang er seine Finger, langsam und gründlich über die solide wirkende Steinmauer zu gleiten. Einen Augenblick später fand er, wonach er gesucht hatte, einen kleinen Stein, der etwas weiter hervorstand als die anderen.
Mit sichtlich bebenden Fingern berührte er ihn, und als der nachgab und die Wand lautlos vor ihm zurückwich, stieß Charles die angehaltene Luft aus. Vor ihm lag ein schmaler Durchgang.
»Himmel!«, rief Julian und überließ Nell die Versorgung von Marcus, dann kam er zu Charles. »Du hattest recht. Es gibt noch eine weitere Geheimtür.«
Mit harscher Stimme erwiderte Charles: »Es mag noch mehr von diesen Türen geben … und Raoul wird sie alle kennen. Ich dagegen nicht.« Charles ergriff seine Pistole und warf Julian einen Blick voll hilfloser Wut und Furcht
zu. »Es tut mir leid, dass ich dich mit Marcus hierlasse … ich hoffe, er erholt sich, aber ich muss jetzt gehen.«
Mit ausdrucksloser Miene nickte Julian. »Geh! Und bring sie wohl und munter zurück.«
»Das werde ich«, schwor Charles, dann betrat er einmal mehr das Unbekannte.
Raouls Überfall war so lautlos, schnell und brutal gewesen, dass Daphne seine Gegenwart erst bemerkte, als sich ein starker Arm um ihre Mitte legte und ein scharfes Messer sich in ihren Hals bohrte. »Ein Laut«, zischte eine Stimme an ihrem Ohr, »und ich werde dir die hübsche Kehle gleich hier an Ort und Stelle aufschlitzen.« Er drückte das Messer noch fester gegen ihre Haut. »Verstanden? Nick, wenn du mich verstanden hast.«
Daphne nickte und hatte den sauren Geschmack der Furcht auf ihrer Zunge. Raoul zerrte sie von den Stufen weg, und sie sah kurz Marcus reglos auf dem Boden liegen. Blut sickerte aus
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