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Wolfsruf

Titel: Wolfsruf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S.P. Somtow
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Wärme verriet. »Hab nie um dich geweint, Ma«, gestand er. »War zu beschäftigt, dich und all die anderen zu rächen.« Castellanos beobachtete ihn neugierig, als er sein Hemd auszog, das Fahrtenmesser aus seinem Schuh löste und sich tiefe Schnitte quer über die Brust zufügte. Laut rief er den Namen des großen Geheimnisses: »Wakantanka, Wakantanka!«
    Johnny saß zu seinen Füßen und fixierte mit hungrigem Blick das strömende Blut.
    Teddy weinte.
    Schließlich war nur noch ein schmaler Streifen Sonnenlicht am Horizont zu erkennen. Der Junge erhob sich plötzlich, spitzte die Ohren; Teddy hörte tote Zweige knacken. Dann
folgten Stimmen, ein alter Mann sang ein Lied für einen Toten. Teddy gebot den anderen mit einer Handbewegung Schweigen. Eine langsame Prozession schlängelte sich den Berg herauf. Zwei Krieger trugen einen Toten auf einer Bahre, ein Wichasha wakan schlug die Totentrommel, Frauen stießen spitze, rituelle Klagelaute aus. Teddy hatte so etwas nicht mehr gesehen, seit sie Zeke in dem anderen Dorf bestattet hatten, damals, bevor die Shungmanitu aus der Ebene geflohen waren und sich ins Gebirge zurückgezogen hatten. Der Anblick brachte ihm seine Erinnerungen zurück, und plötzlich fühlte er sich nicht mehr als Weißer.
    Er ging hinunter, wo sie den Toten auf ein Gestell hoben. Johnny und Victor blieben dicht hinter ihm. Der Medizinmann wirkte keineswegs überrascht, als Teddy ihm erklärte: »Ich bin Little Elk Womans Sohn.« Er trug ein Wolfsfell, und sein Gesicht war wie ein Schädel bemalt.
    Die Leiche war mit eiternden Geschwüren bedeckt. Das Gesicht war kaum noch zu erkennen. Obwohl man den Toten in ein edles Kriegshemd mit Perlenschmuck und Menschenhaar gekleidet hatte, konnte Teddy den Blick nicht von dem Gesicht abwenden. Es sah aus wie von innen nach außen gestülpt.
    »Ich habe schon viele Tote gesehen«, sagte Teddy, »aber noch nie einen, der aussieht, als wäre er bei lebendigem Leibe gefressen worden.«
    »Es ist eine neue Krankheit«, erklärte ihm der Wichasha wakan, »für die wir keine Heilmittel haben. Die Weißen stecken die Wölfe und manchmal auch uns damit an. Die Wölfe sterben aus!«
    »Aber euer Dorf gedeiht!«
    »Menschen aus den Reservaten füllen unsere Reihen auf. Manche Krieger, die sich zusammen mit Sitting Bull ergeben haben, sind nicht mehr zufrieden; wenn sie nicht in Kanada bleiben wollen, kommen sie zu uns.«
    Eine Frau mit blutenden Händen, da sie sich in ihrem
Schmerz die Finger abgehackt hatte, warf sich weinend gegen das Gestell. Teddy fügte sich einen weiteren Schnitt am linken Arm zu, um seine Trauer für den Toten zu bezeugen.
    »Gib mir das Messer«, bat Castellanos. »Ich verstehe diese Indianer zwar nicht, aber ich habe lange genug bei den Comancheros gelebt, um zu wissen, was Schmerz bedeutet.« Er nahm Teddy das Fahrtenmesser aus der Hand, entblößte seine Brust und schnitt sich zweimal ins Fleisch. Der Medizinmann nickte zustimmend und begann wieder auf seine Trommel zu schlagen.
    Johnny trat vor. Der Wichasha wakan sah ihn zum ersten Mal. Vor Verblüffung schlug er neben die Bespannung. Die Frauen unterbrachen ihr Wehklagen.
    »Wanaghi!«, flüsterte jemand.
    »Es ist kein Geist«, widersprach Teddy. »Ich habe euch den Jungen zurückgebracht.«
    »Ihr kennt mich, nicht wahr?«, fragte Johnny auf Lakota. »Ich bin zurückgekehrt. Ich werde euch zum Platz des Mondtanzes führen. Wie ich euch versprochen habe, vor langer Zeit, im Mond der reifenden Kirschen. Ich bin zurückgekehrt. Wenn die weißen Wölfe und die roten Wölfe miteinander tanzen, können wir die Welt immer noch erneuern und die Tage der Freude zurückbringen.«
    Der Schamane starrte ihn ungläubig an. Ein Krieger flüsterte ihm etwas ins Ohr, und er sagte: »Viele böse Geister weilten unter uns.«
    »Ich bin kein Geist«, wiederholte Johnny ruhig.
    »Manche sagen, dass du dich auf deiner Geistreise in einen Vogel verwandelt hast, der so hoch flog, dass er nie mehr zu uns zurückkommen kann.«
    »Ich bin gekommen, um das Volk zum Platz des Mondtanzes zu führen … wie es Ishnazuyai geträumt hat … wie ich es geträumt habe. Ich habe viele Jahre geschlafen, und mein Körper hat große Dunkelheit gesehen, aber mein Traum hat mich zu euch zurückgebracht. Und wir werden den Mondtanz tanzen,
denn der Große Kreis hat sich wieder geschlossen, der Große Kreis der Kreise.«
    »Armes Kind … es ist zu spät, die Menschen sind zu zornig, sie wollen nur noch töten, auch wenn

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