World of Warcraft: Jaina Prachtmeer - Gezeiten des Krieges
großes Potenzial in ihr gesehen und sie mit Freude, Enthusiasmus und Stolz ausgebildet. Sie dachte an die langen Gespräche, die sie über esoterische Angelegenheiten und die Feinheiten der Magie geführt hatten, zum Beispiel in welchem Winkel zum Körper man die Finger bei einer Beschwörung halten sollte. Damals waren sie beide sicher gewesen, dass Jaina schnell in der Hierarchie von Dalaran aufsteigen und eines Tages vielleicht sogar zu den Kirin Tor gehören könnte. Weder er noch sie hatten daran gezweifelt, dass die Stadt ihre Heimat bleiben würde.
Das sanfte Lächeln, das ihre Lippen umspielte, verblasste. So viel – zu viel – war seit jener Zeit geschehen. Sie klammerte sich an die Hoffnung, dass ihr Mentor sie über das Grab hinaus auf ihrem Weg begleitete und dass er es gewesen war, der sie zu diesem Buch geführt hatte, das ihr in allen Einzelheiten verraten würde, wie man die Fokussierende Iris benutzte. Sie wünschte, er könnte ihr für das, was sie vorhatte, seinen Segen geben. Ohne Zweifel würde er ihr Handeln verstehen, hätte er sehen können, was sie gesehen hatte.
Eine sanfte Berührung an der Schulter ließ sie zusammenzucken, und beinahe wäre das Buch unter ihrem Umhang herausgefallen. In letzter Sekunde hielt sie es fest, dann drehte sie sich um.
„Es tut mir leid, ich wollte Euch nicht erschrecken“, sagte Kalecgos.
Verunsicherung überkam sie. Hatte er sie durchschaut? „Woher wusstet Ihr, dass ich hier bin?“, fragte sie, um einen lockeren, gleichgültigen Ton bemüht.
„Ich bin zum Nexus zurückgekehrt, nachdem wir … nachdem Ihr fortgegangen seid. Ich spürte es dort, als Ihr in Dalaran ankamt.“ Seine blauen Augen wirkten unglücklich. „Ich glaube, ich weiß, warum Ihr hergekommen seid.“
Sie wandte den Blick ab. „Ich kam hierher, um Hilfe von den Kirin Tor zu erbitten. Ich dachte, sie würden mich im Kampf gegen die Horde unterstützen, nach dem, was mit Theramore geschehen ist. Aber sie haben sich geweigert.“
Er zögerte einen Moment, dann flüsterte er: „Jaina … auch ich bin in Theramore gewesen. Falls die Bombe auf die Stadt fiel – und wir beide wissen, dass das der Fall ist –, hätte die Fokussierende Iris dort sein müssen. Doch ich konnte sie nirgendwo finden.“
„Ich möchte wetten, die Horde hat jemanden geschickt, um sie zurückzuholen“, meinte Jaina. „In den Ruinen habe ich jedenfalls gegen einige Orcs gekämpft.“
„Vermutlich habt Ihr recht“, stimmte er ihr zu.
„Könnt Ihr sie noch immer spüren?“, wollte sie nun wissen.
„Nein. Aber wäre sie zerstört worden, dann hätte ich es gewiss gemerkt. Ich muss also davon ausgehen, dass ein mächtiger Magier sie einmal mehr vor meinen Sinnen abschirmt, und diesmal ist er sogar noch wirkungsvoller darin als beim letzten Mal. Falls das Artefakt noch immer existiert, kann es auch noch immer eingesetzt werden, um großen Schaden in dieser Welt anzurichten. Wie wir beide ja gesehen haben.“
Also … hatte ihr Abschirmungszauber gewirkt. „Dann solltet Ihr Euch wohl besser auf die Suche danach machen.“ Es gefiel ihr nicht, ihn anlügen zu müssen, aber sie wusste, dass er es nicht verstehen würde. Oder … vielleicht doch? Falls er wirklich in Theramore gewesen war … und gesehen hatte, was sie gesehen hatte … dann teilte er womöglich ihre Gefühle.
„Kalec – die Kirin Tor werden mir nicht helfen. Ihr sagtet einst, Ihr würdet für mich kämpfen – für die Lady von Theramore. Theramore gibt es nicht mehr, aber ich, ich lebe noch.“ Aus einem Impuls heraus streckte sie den Arm aus und griff nach seiner Hand. Er umschloss sie fest mit seinen Fingern. „Helft mir! Bitte! Wir müssen die Horde zerstören. Sie wird sich nicht mit diesem einen Sieg begnügen, und das wisst Ihr.“
Sie konnte sehen, wie sich die widerstreitenden Gefühle in seinem Inneren auf seinem Gesicht spiegelten. Da wurde ihr klar, wie viel er tatsächlich für sie empfand. Gleichzeitig spürte sie, dass ihre Gefühle für ihn ebenso stark waren. Doch jetzt war nicht die Zeit, einander den Hof zu machen, nicht die Zeit für süße Zärtlichkeiten und überhaupt nicht die Zeit für jedwede Romantik. Solange die Horde noch existierte und in der Lage war, weiterhin solch schreckliche Untaten zu begehen, gab es keinen Platz für Zuneigung. Sie brauchte jede Waffe, die sie nur finden konnte, und ungeachtet ihrer eigenen Wünsche und Bedürfnisse wusste Jaina, dass sie ihr Herz in Stahl verwandeln
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