Zauber der Versuchung: Roman (German Edition)
Nicht, dass wir etwas hätten ausrichten können. An jenem Abend war er schockiert von seinem Benehmen, vor allem aber hatte er furchtbare Angst. Er war überzeugt, dass er sich in unseren Vater verwandelte, und das wollte er auf keinen Fall. Der Grund, weshalb er sich vom Dach stürzte, war das, was er dir angetan hatte, nicht irgendwas, das du ihm getan hattest.«
Judith schluckte. »Das kannst du nicht wissen, Alexandra.«
»Ich weiß es, Judith.« Sie holte tief Luft. »Denn ich war dabei.«
Judith war so schockiert, dass ihr der Atem stockte.
»Ich wusste an dem Abend, wie wohl jeder in diesem Haus, dass zwischen euch beiden Schreckliches vorgefallen sein musste. Ich sah, wie Lucian an deine Tür hämmerte, und als er hinauf aufs Dach stieg, folgte ich ihm.« Trauer und Reue spiegelten sich in Alexandras Zügen. »Ich versuchte, ihn davon abzuhalten, aber er hörte nicht auf mich. Und ich wusste nicht, was ich ihm sagen sollte.« Sie seufzte. »Er sagte mir, ich solle dir ausrichten, dass es ihm leidtut.«
»Alexandra«, begann Judith, brachte jedoch kein weiteres Wort heraus.
»Ich wollte ihn aufhalten. Ich erinnere mich genau, wie ich die Hände nach ihm ausstreckte, ihn festhalten wollte«, fuhr Alexandra eilig fort, wie eine Gehetzte. »Aber da war er auch schon weg, seitlich vom Haus herunter in die Nacht gestürzt. Ich brachte es nicht fertig, vom Dach zu sehen«, flüsterte sie traurig. »Ich wollte nicht auf ihn herabblicken, ihn klein und aus der Ferne sehen, wie eine zerbrochene Puppe, die weggeworfen wurde.« Sie holte tief Luft. »Mir war klar, dass er den Fall nicht überlebt haben konnte, aber ich hoffte trotzdem, jedenfalls einen Moment lang. Ich rannte hinunter auf die Terrasse, aber er war... war...«
»Er wurde doch erst am nächsten Morgen gefunden?«, sagte Judith leise. Sie erinnerte sich an jede Einzelheiten des Morgens, an die Schreie der Bediensteten, die seine Leiche fanden. An den Schmerz, der sie erfüllte, und ganz besonders an das Entsetzen, als ihr bewusst wurde, dass es ihre Schuld war.
»Ich wollte nicht, dass die Leute die Wahrheit erfuhren. Ich dachte, es würde wie ein Unfall aussehen, wenn ihn jemand anders fand. Also blieb ich bis zum Morgengrauen bei ihm, dann versteckte ich mich und wartete, bis man ihn fand«, erzählte Alexandra weiter. »Eine lange Zeit fragte ich mich, wie mein Herz weiterschlagen konnte, wenn es seines nicht mehr tat. Schließlich hatten unsere Herzen seit unserer Geburt im selben Rhythmus geschlagen.
Ich hätte dir damals sagen müssen, dass es nicht deine Schuld war, aber mein Schmerz war zu groß, als dass ich dir deinen erleichtern wollte. Als die Jahre dann dahingingen, und ich vollkommen abhängig von dir war, während dein Leben so sorglos schien...«
»Sorglos?«
»War es das nicht?«
»Ja, in vielerlei Hinsicht war es das wohl, aber nur, weil ich niemanden hatte, um den ich mich sorgen musste. Nein«, korrigierte Judith sich. »Weil ich mir nicht erlaubte, mich um jemand anderen zu sorgen oder jemand anderen für mich sorgen zu lassen.«
»Weil du dachtest, du wärest für Lucians Tod verantwortlich? Weil du glaubtest, du hättest ihn im Stich gelassen? Und wenn du ihn schon enttäuschtest, könntest du erst recht jemand anderen enttäuschen, was ebenso tragische Folgen hätte?«
»Ja, ungefähr so«, murmelte Judith.
»Tja, du hast dich geirrt«, erklärte Alexandra schlicht.
Judith starrte sie sprachlos an.
»Ist es so schwer zu glauben? Dass du dich geirrt hast?«, fragte Alexandra mit dem Anflug eines Lächelns.
»Darin?« Judith nickte. »Durchaus.«
»Sein Weg war ihm von Beginn an vorbestimmt. Du warst... nebensächlich.« Alexandra sah sie an. »Wärst du es nicht gewesen, wäre es irgendjemand sonst. Oder irgendetwas. Ich denke heute, dass sein Selbstmord unvermeidlich war, sobald er dachte, er würde zu unserem Vater. Du hättest nichts tun können, um ihn zu retten.«
»Doch, hätte ich gewusst...«
»Aber du wusstest es nicht. Du wusstest weder von seinen Ängsten noch von seinen Dämonen. Und selbst wenn, es hätte nichts geändert.« Alexandra seufzte und wandte sich wieder zum Fenster. »Ich kannte ihn besser als alle anderen. Seine Dämonen waren meine, und doch konnte auch ich ihm nicht helfen.«
Judiths Blick folgte Alexandras, und einen Moment lang waren beide Frauen in ihrer gemeinsamen Tragödie verbunden – zehn Jahre nach deren Eintreten. Judith versuchte, ihre Gedanken zu sammeln, ihre Gefühle,
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