Zauberschiffe 01 - Der Ring der Händler
dieser Blick weckte ihn immer noch aus seinen Alpträumen. Das runde, blaue Auge war ungeheuer groß gewesen, besaß keine Augenbraue und war wimpernlos, und dennoch lauerte etwas entsetzlich Menschliches in dem runden, blauen Auge, dessen Blick ihn so spöttisch gemustert hatte.
Althea sehnte sich nach einem Bad mit frischem Wasser. Als sie sich den Aufgang zum Deck hinaufquälte, schmerzte jeder Muskel in ihrem Körper, und von der stickigen Luft des Laderaums im Achterdeck dröhnte ihr der Kopf. Wenigstens hatte sie ihre Aufgabe erfüllt. Sie würde in ihre Kabine gehen, sich mit einem nassen Handtuch waschen, sich umziehen und vielleicht eine Runde schlafen. Und dann würde sie sich Kyle stellen. Sie hatte es lange genug aufgeschoben, und je länger sie damit wartete, desto unwohler wurde ihr. Sie würde es erledigen und schließlich mit dem leben, was es ihr einbrachte.
»Mistress Althea.«
Sie hatte kaum das Deck betreten, als Mild sich ihr in den Weg stellte. »Der Käpt’n will Euch sehen.«
Der Schiffsjunge grinste sie an. Halb entschuldigend, doch halb genoss er es auch, der Überbringer solcher Nachrichten zu sein.
»Sehr gut, Mild«, sagte sie gelassen. Sehr gut, wiederholte sie in Gedanken. Keine Wäsche, keine frische Kleidung und kein Schläfchen vor der Auseinandersetzung. Sehr gut. Sie ließ sich einen Augenblick Zeit, um sich ihr Haar aus dem Gesicht zu streichen und sich die Bluse in die Hose zu stecken. Vor ihrer letzten Aufgabe war das ihre sauberste Arbeitskleidung gewesen. Jetzt klebte der rauhe Baumwollstoff ihrer Bluse verschwitzt an Rücken und Hals, während sie sich die Hose in dem engen Laderaum des Achterdecks mit Werg und Teer schmutzig gemacht hatte. Sie wusste, dass ihr Gesicht ebenfalls dreckig war. Nun gut, hoffentlich genoss Kyle seinen Vorteil. Sie bückte sich, als wollte sie sich den Schuh schnüren, doch stattdessen presste sie die Hand auf die Planken. Einen Moment schloss sie die Augen und ließ die Kraft der Viviace durch ihre Handfläche in sich hineinströmen. »Ach, Schiff«, flüsterte sie so leise, als bete sie, »hilf mir, mich gegen ihn zu behaupten.«
Dann stand sie mit frischer Entschlossenheit auf.
Als sie das dämmrige Deck zur Kajüte des Kapitäns hinaufging, vermieden es alle, denen sie begegnete, sie anzusehen. Alle Seeleute waren plötzlich außerordentlich geschäftig oder blickten rein zufällig in die andere Richtung. Sie verkniff es sich, dem Impuls zu folgen und sich umzudrehen, um zu sehen, ob sie ihr nachschauten. Stattdessen straffte sie die Schultern und reckte den Kopf, während sie ihrem Untergang entgegenging.
Sie klopfte vernehmlich an die Tür der Kapitänskajüte und wartete auf seine mürrische Antwort. Als sie ertönte, trat sie ein und blieb stehen. Sie wartete, bis sich ihre Augen an das gelbliche Licht der Laternen gewöhnt hatten. In diesem Moment empfand sie schreckliches Heimweh. Ihre intensive Sehnsucht galt jedoch keinem Häuschen am Strand, sondern diesem Raum, allerdings so, wie er einmal gewesen war. Erinnerungen drehten sich in ihrem Kopf. Die Öljacke ihres Vaters hatte an diesem Haken gehangen, und das Aroma seines Lieblingsrums hatte in der Luft gelegen. In dieser Ecke hatte er ihre erste Hängematte befestigt, nachdem er ihr erlaubt hatte, an Bord der Viviace zu leben, damit er sie besser im Auge hatte. Sie ärgerte sich, als ihr Blick auf Kyles Unordnung fiel, die die gewohnte Heimeligkeit der Kajüte überlagerte. Ein Nagel in seinem Stiefel hatte Kratzer in die polierten Bohlen geschrammt.
Ephron Vestrit hatte niemals Seekarten herumliegen lassen, und er hätte auch nie das schmutzige Hemd toleriert, das über der Lehne des Stuhls hing. Er duldete keine Unordnung auf seinem Schiff, und das schloss seine eigene Kajüte mit ein.
Sein Schwiegersohn Kyle teilte diese Werte offensichtlich nicht.
Althea trat umständlich über eine Hose und baute sich dann vor dem Tisch des Kapitäns auf. Kyle ließ sie eine Weile dort stehen, während er irgendeine Anmerkung auf der Karte studierte. Eine Anmerkung, wie Althea erkannte, in der Handschrift ihres Vaters. Diese Erkenntnis verlieh ihr Kraft, selbst als die Wut darüber heiß in ihr brannte, dass er Zugriff auf die Familienkarten hatte. Die Seekarten einer Händlerfamilie gehörten zu den am eifersüchtigsten gehüteten Schätzen. Wie sonst sollte man die schnellsten Routen durch die Innere Passage schützen oder die Handelshäfen weniger bekannter Orte? Dennoch, ihr
Weitere Kostenlose Bücher