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Zeilen und Tage

Zeilen und Tage

Titel: Zeilen und Tage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Sloterdijk
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ein Zaungast bei den Begeisterungen der anderen geblieben ist.
    Jüdische Redewendung aus dem späten Mittelalter: Das ist so nützlich wie ein Aderlaß für einen Toten.
    Akut-Anthropologie: Die Gattung wird immer dicker. Die adipöse Dynamik der Menschheit ist ein Verfall, der als Zunahme erscheint.
25. Juli, St. Blasien
    Mit den Rädern in den Südschwarzwald trotz Wetterbedenken. Was folgt, ist ländliche Misere. Ein Regentag in den Bergen stellt viel in Frage.
    Es wäre interessant, die These des britischen Historikers Alfred Cobban zu verifizieren, wonach die Ereignisse von 1789 die soziale und ökonomische Entwicklung Frankreichs eher zurückgeworfen als gefördert haben. Diese »revisionistische« Analyse birgt eine schwere Beleidigung für die Verteidiger der Ansicht, die Französische Revolution habe in jeder Hinsicht positive Tendenzen gezeitigt. Wie also, wenn sie in ihrer primären Tendenz, der des »sozialen Fortschritts«, eine statische, wenn nicht sogar regressive Bedeutung besessen hätte?
    Tatsächlich wuchs die Verelendung der Massen von Paris und der Armen auf dem Lande über Nacht ins Unermeßliche, nachdem der Konvent im Jahr 1791 die Zerschlagung der römisch-katholischen Kirche und den Verkauf der Kirchengüter an die Wohlhabenden beschlossen hatte: Mit einem Schlag wurde so das einzige »soziale System«, über das Frankreich noch verfügte, das der kirchlichen charité, vernichtet. Die ehemalige Fürsorgepflicht der Grundherren für die Armen war bereits im 18. Jahrhundert erloschen und hatte einer ständig fortschreitenden Entfremdung zwischen Volk und Adel Platz gemacht – die mußte sich in der Revolution entladen. Das etatistische Erbe des ancien régime war damit aber nicht überwunden, und es dominiert bis heute.
    Vor dem Hintergrund solcher Bedenken gewinnt Furets These, die Französische Revolution sei »vorüber«, eine zusätzliche Bedeutung. »Vorüber« heißt im gegebenen Kontext nicht bloß: in der Zeit vergangen; sondern: hinsichtlich ihrer paradigmatischen Energie erschöpft. Erstaunlich lange hatte der Napoleon-Effekt die Einsicht verdeckt, daß der Lauf der Dinge in Frankreich die Ausnahme, nicht die Regel gewesen war.
    Nach Cobban war die Verherrlichung der Revolution durch die marxistische Hagiographie die größte Mystifikation, die die Geschichtsschreibung kennt – zudem eine geschichtemachende Mystifikation, sofern sie nicht nur die Vergangenheit mißdeutete, sondern auch die Zukunft verzerrte.
    Ob diese Hinweise triftig sind, wird man nicht zuletzt daran erkennen, daß alle künftigen politischen Revolutionen, die in Ländern mit repressiven Regimen losbrechen könnten, scheiternwerden, wenn sie nicht einen für breite Schichten spürbaren sozialen und ökonomischen Sprung nach vorn bewirken – es sei denn, sie brächten es fertig, wie die Franzosen ihr soziales Scheitern durch charismatischen Expansionismus zu übertünchen. Die iranischen Ansätze zu einer neuen Reichsbildung deuten in diese Richtung.
    Nun also der fällige Ausflug nach Todtnauberg, wo wir die Hütte Heideggers von außen inspizieren, hoch über dem Hügel mit großer Fernsicht gelegen, am Rand einer Hangwiese, die sich wie der Originalschauplatz der »Lichtung« ausbreitet.
28. Juli, St. Blasien
    Mit dem Rad auf den Belchen, den schönsten Aussichtspunkt des Schwarzwalds, 1415 Meter hoch. Nach einer 70 km langen Tour mit 1100 Höhenmetern ist am Abend ein Velomanenfest plausibel.
    Bei der Lektüre von Burkes Betrachtungen über die Revolution in Frankreich , 1790, springt ins Auge, daß die konservative Kritik einen wenn auch nicht allzu langen zeitlichen Vorsprung vor der jakobinischen Gegenkritik behauptet. Die moderne Kritik, wohlgemerkt, beginnt als Diagnose über den verantwortungslosen Gebrauch öffentlicher Sophismen. Die ersten »fliegenden Fische« sind, wie Burke es formuliert, »politische Theologen und theologische Politiker«. (S. 48). Im übrigen ist es Gentz, Burkes Übersetzer, der das Buch schon 1793 in eine weltgeschichtliche Perspektive rückte, indem er die Betrachtungen über die Revolution in Frankreich dem deutschen Lesepublikum als Betrachtungen über die Französische Revolution präsentierte.
    Burke übersetzt seinerseits Etienne de la Boéties klassische Diagnose der menschlichen Neigung zur freiwilligen Knechtschaftin die Sprache der konservativen Moderne. Dort heißt die sinnverwandte Tendenz »dieses freiwillige Streben nach Unheil« – eine Formel, die

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