Zeilen und Tage
sich die Liebhaber der Idee der fortgehenden Mobilmachung. Um »in der Revolution« zu bleiben, dozierte er, dürfe die mobilisierte »Gesellschaft« nie mehr in einen Gleichgewichtszustand zurückfallen.
Zum Ideenkreis des Faschismus, ob rechts oder links, rechnet, wer sich keine Gesellschaft vorstellen will, die nicht von dem einen Krieg in den nächsten aufbricht. In diesem Punkt wurde Trotzki nur von Mao Tse Tung übertroffen, der auf seine älteren Tage den von ihm postulierten Dauerkrieg unter dem absurden Namen »Kulturrevolution« neu vom Zaun brach – absurd, weil die vorgebliche Revolution eine einzige Zerstörungs- und Erniedrigungsorgie war. »Eins teilt sich in zwei, das ist ein universelles Phänomen, das eben ist die Dialektik«, sagte der alte Fuchs auf einer Tagung in Moskau 1957. Von seinen sklerotischen Faseleien waren die Pariser Intellektuellen nach 1968 so entzückt, daß Philippe Sollers, damals die diensthabende Wetterfahne im Ostwind, dozierte, über die Weisheit Maos würden die Denker des Westens noch Tonnen von Dissertationen schreiben. Nebenbei: Wenig später wurde der wendige Maoist katholisch und erteilte sich tief gerührt die Absolution für seine Verirrungen.
Peter Gay suggeriert, man solle das freie Assoziieren der Freudschen Patienten in Analogie setzen zu den Verfahren des Impressionismus in der Malerei und der Atonalität in der Musik. Der Hinweis ist geistreich, doch zu flüchtig, um auf eine fruchtbare Spur zu führen. Man liest ihn am besten als Indiz: Während man früher die Kunst vor den Thron der Psychoanalyse lud, um überdas Unbewußte ihrer Urheber zu Gericht zu sitzen, soll jetzt die im Kurswert gesunkene Psychoanalyse aufgewertet werden, indem man ihre Verfahren als Pendants zu krisenfesteren Kunstphänomenen anpreist.
Der genius loci zeigt sich klimatisch in der üblichen Weise. Dauerregen vom frühen Abend bis zum nächsten Vormittag. Meine mürrischen Nachgedanken über Guths für meinen Geschmack zu formalistischer Inszenierung von Così fan tutte sind gar nicht geeignet, die tiefhängenden Wolken zu neutralisieren. Schlechte Laune hat den Vorteil, daß sie schwarze Gedanken wie unwiderlegbare Argumente erscheinen läßt.
Man müßte es mit großen Lettern an die Eingangshalle der Felsenreitschule schreiben: Die durchgespielte Oper ist eine überholte Form der Vergegenwärtigung von Musik. Man dürfte nur noch öffentliche Proben und Gesprächs-Konzerte unter Hinzuziehung kluger Kommentatoren geben, je höher das Kunstwerk, desto rigoroser. Auf diese Weise würde man an einem Abend höchstens einen Akt zu sehen und zu hören bekommen, aber man wüßte endlich, warum und wo und wie. Mir wäre es sinnvoller erschienen, man hätte Siegfried Mauser, nicht Pereira, zum neuen Leiter der Festspiele berufen. Er, der nicht nur zu den bedeutenden Pianisten, sondern auch zu den intelligentesten Musiktheoretikern der Gegenwart gehört, wäre am ehesten bereit gewesen, zuzugeben, daß die übliche Überschwemmung des Publikums mit Meisterstücken eine geistwidrige, um nicht zu sagen barbarische Seite entwickelt, so sehr man als Solist am konventionellen Konzertabend hängt – und so sehr man als Konzertbesucher ans Hören als ob gewöhnt ist. Und überhaupt, man kann im Sommer Festivals veranstalten, soviel man will, der Geist der Kultur ist sowieso längst über alle Berge.
Die wahre Aufführung müßte vor Publikum erarbeitet werden. Bloß ausnahmsweise dürfte man ein Stück durchspielen, nämlich dann und nur dann, wenn das intelligente Hören durch ausführliche Vorarbeit wahrscheinlicher geworden ist. Es ist nicht einzusehen, warum der Hörer so viel weniger üben soll als der Musiker. Man muß das Gesindel, das nur dabeigewesen sein will, nach Hause schicken, allen voran die österreichischen Politiker, die sich so gern in der ersten Reihe ablichten lassen. Zusätzlicher Vorteil: Man könnte die Regisseure nötigen, offenzulegen, aus welchen Brühwürfeln sie ihre dünnen Suppen fabrizieren. Die Regressionsverabredungen der Herren Theatermacher mit dem hochmögenden Publikum würden aufgelöst, die Opernverantwortlichen müßten vor klüger gewordenen Ohren beweisen, daß sie etwas von dem verstanden haben, was sie produzieren.
Im Regen auf dem Land: Der Sinnspiegel sinkt. Du kannst nichts tun, außer durchs Balkonfenster hinauszustarren. Die Dorfstraße versinkt in der Idiotie, der Gaisberg ist in den nassen Wolken verschwunden. Dann fällt dir ein, daß
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