Zeiten der Hoffnung: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
Hand. Rogér, der Hausdiener, war aus seinem Urlaub zurückgekommen – er wohnte ohnehin in Lagarde – und verbreitete mit seiner gravitätischen Art die dem Anlass angemessene Würde. Er war fast so alt wie die Großmutter selbst gewesen war – Anfang achtzig – und kannte alle Gäste seit langer Zeit. Helène hatte ihn gebeten, sich in den kommenden Monaten um das Haus zu kümmern, wenn sie nach Berlin gereist sein würde. Er hatte sich sofort dazu bereit erklärt.
Als am Sonntag die letzten Gäste gegangen waren, saßen Helène und Wilhelm im Kaminzimmer schweigend zusammen. Wilhelm sah seiner Mutter die Erschöpfung an. Sie trug bereits ihr Reisekleid, die Koffer standen in der Halle bereit. So war es immer schon gewesen: Wenn eine Reise oder ein Familienausflug bevorstand, war sie als Erste aufbruchsfertig. Ein Umstand, der bei Richard von Schwemer nicht selten zu Unmut führte, denn er war stets der Letzte und hasste es, zur Eile angetrieben zu werden. Wilhelm hatte noch nicht zusammengepackt, seine Kleidung würde er am nächsten Morgen in seinen Reisekoffer tun, er hatte noch nie viel Zeit dafür gebraucht. In Wahrheit schob Wilhelm diese Aufgabe so weit wie möglich von sich, um den Gedanken, Lagarde und Adèle verlassen zu müssen, zu verdrängen. Helène schien nichts davon zu ahnen, sie nickte aufmunternd, als er sagte, die letzten Tage hätten ihn sehr mitgenommen und er würde jetzt gern noch einen Spaziergang zum Friedhof machen.
»Geh nur, du hast in diesen Wochen so viel erlebt wie andere in ihrem ganzen Leben nicht.«
»Danke«, sagte Wilhelm und verbeugte sich knapp. »Sie können ruhig schon schlafen gehen, Sie brauchen nicht auf mich zu warten.«
Sie nickte und sah geistesabwesend in die kleiner werdende Flamme des Kaminfeuers. »Um neun kommt die Kutsche, Rogér bereitet uns vorher ein Frühstück. Er wird uns auch Reiseproviant zusammenstellen.«
*
Der Friedhof befand sich am nördlichen Ausgang des Dorfes oberhalb des Kanals, die Abendnebel krochen über den Boden und bedeckten die verwitterten Grabsteine, als Wilhelm die eiserne Pforte öffnete. Sie quietschte leise, als er sie langsam hinter sich schloss und den Pfad zum Grab seiner Großmutter ging. Es war nicht zu verfehlen, Blumen und Kränze lagen auf der frisch aufgeschütteten Erde. Wilhelm sah seine Großeltern vor sich, wie sie Hand in Hand die große Treppe ihres Hauses herunterkamen, um die Ankömmlinge aus Berlin zu begrüßen. Er hörte das Gelächter der Essensgäste, wenn der Großvater Geschichten aus dem Dorf zum Besten gab, die sich seit dem letzten Besuch der »Berliner« zugetragen hatten. Er sah seine glücklichen Augen, wenn er Helène einen Arm um die Taille legte, um mit ihr durch den Blumengarten hinter dem Haus zu gehen. Wilhelm hätte gern gehört, was er seiner Tochter in solchen Momenten erzählte. Wilhelm wusste, dass seinem Vater die innige Beziehung der beiden Rätsel aufgab. »Ein schönes Paar«, kommentierte Richard von Schwemer hin und wieder das Bild.
Wilhelm kniete vor dem Grab, schloss die Augen und legte eine Hand auf die kühle Erde, um seiner Großmutter adieu zu sagen, als er leise Schritte näher kommen hörte. Er brauchte sich nicht umzudrehen. Er wusste, dass sie es war.
»Glaubst du, sie hätte uns ihren Segen gegeben?«, fragte Adèle nach einer Weile, kniete sich neben Wilhelm und ließ Erde durch ihre Finger rieseln. Wilhelm wandte sich ihr zu. Sie trug wiederdie Jungenkleidung, das kurze Haar stand noch wirrer vom Kopf ab als sonst. Er nickte. Er liebte sie in diesem Augenblick mehr denn je, sie verkörperte für ihn alles, was er mit Lagarde verband: Freiheit, Zukunft, Hoffnung.
»Es gibt wohl wenig Hoffnung«, sagte sie und blickte versonnen auf das Grab, dass in der rasch fortschreitenden Dunkelheit kaum noch zu sehen war.
»Wofür?«
»Für alles. Für Frieden und Gerechtigkeit, für dein Land, für mein Land, für dich und mich. Für die Menschen überhaupt, für die Zukunft …«
»Wir haben Frieden. Und wir haben uns.« Er streckte seine erdige Hand nach ihr aus, und sie ergriff sie. »Brauchen wir eine Zukunft?«, fragte er.
»Heute nicht.«
*
Der Morgen war hektisch. Rogér hatte ein schnelles Frühstück bereitet, die Kutsche war früher vorgefahren als bestellt, die Kutscher standen wartend in der Halle herum. Die stets pünktliche Helène konnte Überpünktlichkeit bei anderen nicht ertragen, es machte sie nervös. So lief sie ständig von einem Raum zum andern,
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