Zeiten der Hoffnung: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
seinen Arm hinter Adalbert hervor, um die Sitzposition zu ändern, als die Abteiltür aufgerissen wurde und Professor Schweninger hereinstürzte, seine Schwester dicht hinter ihm. »Der Junge!«, schrie er, »was machen Sie mit ihm! Er braucht sein Wasser!« Der Zug ruckte in einer Kurve, Schweninger stürzte zu Boden. Adalbert erwachte und begann verzweifelt,nach Luft zu ringen. Er lief blau an, ruderte mit den Armen, dann fiel er nach vorn und in Wilhelms Arme.
Als er seinen Bruder aufzurichten versuchte, bemerkte Wilhelm, dass Adalbert sich nicht mehr rührte. Er zog ihn an sich, presste seinen Mund auf Adalberts und blies Luft hinein. »Sanitäter!«, rief er, »Sanitäter, schnell!« Dann wurde ihm schwarz vor Augen.
Er kam zu sich, als jemand ihn schüttelte und seine Wangen tätschelte. Er öffnete die Augen und sah in Robert von Trencks Gesicht. »Was ist denn nun wieder?«, fragte Robert, »war es wieder dieser Traum?«
*
Wilhelm brauchte einige Sekunden, um sich zu orientieren. Vier weitere Husaren saßen mit ihnen im Abteil und sahen Wilhelm besorgt an.
»Entschuldigung«, sagte er, »ich muss eingeschlafen sein.«
»War es wieder der Traum mit deinem Bruder?«, fragte Robert von Trenck. Wilhelm nickte. Vor drei Wochen hatte er Adalbert ins Sanatorium begleitet, so wie es mit den Eltern besprochen worden war. Adalbert hatte die Fahrt problemlos überstanden und sich zu Wilhelms Erleichterung klaglos von ihm verabschiedet, als er ihm sagte, dass er sicherlich in einem oder zwei Monaten wieder nach Hause käme. Doch Adalbert hörte kaum zu, er hatte sich bereits zwei gleichaltrigen Jungen angeschlossen, die ebenfalls in der Kinderabteilung des Sanatoriums behandelt wurden.
»Ja«, antwortete Wilhelm auf Roberts Frage, »es ist immer das Gleiche. Ich weiß nicht, was das soll.«
»Du machst dir Sorgen um den Jungen, das ist ganz normal. Sobald wir in Aachen sind, rufst du in Stralsund an und erkundigst dich nach ihm.«
Wilhelm nickte, entschuldigte sich noch einmal, dann sah er aus dem geöffneten Fenster und blickte auf die dunkelgrünen Wälder des Hunsrücks. Der Zug war voller Soldaten, das Regiment war auf dem Weg nach Westen. Zwei Monate lang hatten sie die Kaserne nicht verlassen dürfen, waren täglich zu Manövern ausgeritten. Für die Fahrt nach Stralsund hatte Wilhelm einen TagUrlaub erhalten. Dann kam der Befehl, auf den sie das ganze Frühjahr gewartet hatten. Verwunderung löste nur aus, dass es nicht Richtung Frankreich ging, sondern in eine Kaserne nach Aachen, nahe der belgischen Grenze.
»Die Franzosen werden bei Straßburg angreifen«, hatte Robert gemeint, »das ist doch klar! In den Vogesen haben sie ihre stärksten Befestigungen. Warum bringen sie uns an die belgische Grenze? Wenn es losgeht, sind wir doch völlig ab vom Schuss!«
»Gut gesagt«, lachte einer der Kameraden. »Aber wie man hört, plant die Generalität etwas ganz anderes. Wir werden dem Franzmann nicht auf den Leim gehen. Wir erwischen ihn dort, wo er uns überhaupt nicht erwartet.«
Wilhelm sah ihn an. »Wo hört man denn so etwas? Die Planungen sind streng geheim. Außerdem haben wir keinen Krieg. Es ist ein Manöver.«
»Na, das musst du doch besser wissen als wir alle! Im Haus deines Vaters gehen sie doch ein und aus, die Stabsleute. Da hörst du sicherlich so einiges.«
Wilhelm schüttelte den Kopf. »Da hör’ ich gar nichts. Und man sollte sowieso nichts auf all das geben, was so geredet wird.«
»Ja, ja, halt dich nur bedeckt. Wenn einer in unserem Regiment weiß, was läuft, dann du. Aber bitte, wir werden bald sehen, wie der Hase wirklich läuft.«
Wilhelm nickte. »Werden wir – wenn er überhaupt läuft.«
Gedanken
Es wurde immer heißer in den Waggons. Wilhelm wischte sich den Schweiß von der Stirn. Der Sommer war in Westdeutschland schon ein erhebliches Stück weiter als in Berlin. Seine Mutter hatte vorausgesagt, es würde ein Jahrhundertsommer werden, nachdem sie aus Lagarde zurückgekehrt war. Der Wein habe so früh zu treiben begonnen wie nie zuvor. »Aber ob wir ihn in diesem Jahr ernten werden, weiß der Himmel«, sagte sie. »Printemps wird immer noch festgehalten, und wo seine Tochter ist, weiß nicht einmal er. Er ist in großer Sorge.«
»Haben Sie ihn gesprochen?«, hatte Wilhelm sie gefragt.
»Wenn man es so nennen kann: Er hat kaum etwas gesagt. Es stand die ganze Zeit ein deutscher Wachmann daneben, als ich ihn besuchen durfte.«
»Wieso haben sie Sie zu ihm
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