Zenjanischer Lotus (German Edition)
kannte.
Man gewöhnte sich nur schwer an die Quälerei, die mit dem beständigen Dehnen des Zeitraums zwischen den einzelnen Gaben des verfluchten Gifts einherging.
Theasa und er selbst konnten mittlerweile zwei Wochen ohne einen Tropfen Lotus auskommen und begannen sich erst am siebzehnten oder achtzehnten Tag danach zu sehnen. Geryim dagegen stand noch am
Anfang, brauchte das Gift alle zehn Tage und litt. Die Zeit der Erholung war zu kurz.
„Ich kann ihn immer noch nicht leiden“, verkündete Geryim, zwinkerte Janis jedoch fast unmerklich zu.
„Aber?“, hakte der weise Vater der Bruderschaft nach.
Behutsam legte sein Gegenüber einen frischen Verband um Syvs Flügel und band ihn eng an den Körper, damit der Knochen im richtigen Winkel zusammenwuchs.
Er sah erst auf, als er mit seiner Arbeit zufrieden war: „Ich werde es tun. Nicht, weil es gut für mich oder gar für ihn ist, sondern weil ich nicht möchte, dass einer von
euch es tun muss.“
Theasa lachte gurgelnd und nahm Geryims Becher. Sie hielt ihn weit von sich, als hätte sie Angst, der Verlockung nachzugeben und daran zu lecken: „Wie auch immer. Gib ihm eine Chance,
Kleiner. Er ist einer von den Guten. Wenn ich überlege, was andere Neuankömmlinge für Ärger gemacht haben, als sie nach der Betäubung aufwachten ...“
Janis und Theasa lachten, und Geryim wurde ungewohnt klein auf seinem Platz.
Der grauhaarige Veteran dachte im Stillen, dass Theasas Methoden manchmal wirksamer waren als seine eigenen. Geryim Verstand einzutrichtern, solange er Schmerzen hatte, war praktisch
unmöglich. Es war gut, dass er die Verantwortung für die Bruderschaft nicht allein tragen musste.
* * *
Sie hatten ihm ein kräftiges Mahl kredenzt, ihm geraten, trotz Nervosität gut zu essen und viel zu trinken. Anschließend hatte er Hemd und Hose angezogen, die sie ihm gebracht
hatten. Kleidung ohne Bänder, ohne Schnürung und aus einem groben Jute-Stoff gewebt, der sich schlecht zerreißen ließ. Er bekam keine Stiefel.
Den Abschluss der Vorbereitungen bildete ein letzter Becher Zenjanischer Lotus, bevor er für einundzwanzig Tage ohne auskommen musste.
Benebelt und aufgeregt zugleich saß Sothorn auf der Bettkante und wartete. Sie hatten ihm erklärt, dass er nicht in seinem Zimmer bleiben durfte. Aus welchem Grund hatte er nicht
verstanden, und sie hatten es ihm nicht erklärt.
Es war schwierig, Angst zu haben, während der Lotus seine Sinne streichelte und ihm vorgaukelte, dass er ausnahmslos alles schaffen konnte. Spätestens morgen würde es anders
aussehen.
Einundzwanzig Tage. Undenkbar. Und doch, der Befreiungsschlag war verlockend.
Sothorn war neugierig, was ihn erwartete. Bisher hatte er nur wenige Facetten des Lebens in der Bruderschaft kennengelernt, aber der nahezu familiäre Umgang hatte ihn bewegt und an bessere
Zeiten erinnert.
An ein Leben im grünen Licht der Sümpfe, an das niemals nachlassende Zischeln der Schlangen und Surren der Insekten, an den Gesang der Vögel und das vertraute Glucksen der
Moorlöcher. An die vielfältigen Gerüche, die sich unter dem Moder verbargen. Kräuter, Gräser, die Triebe junger Bäume. Würden sie ihm erlauben, heimzukehren? Um
herauszufinden, ob seine Eltern noch am Leben waren? Vielleicht, wenn es einen Auftrag gab, der sie nach Auralis führte.
Jahrelang hatte Sothorn keinen Gedanken daran verschwendet, seine Familie zu suchen. Er hatte an sie gedacht, aber stets in der Gewissheit, sie nie wiederzusehen. Damit sie nie erfahren mussten,
was aus ihm geworden war.
Als Teil der Bruderschaft blieb er ein Assassine, aber er hoffte, nebenbei zum ersten Mal ein Mann sein zu dürfen.
Was immer das bedeutete.
Es klopfte. Sothorn straffte die Schultern und erhob sich. Ein letztes Mal sah er sich um, verabschiedete sich von seinem Bett, dass er in den wenigen Tagen in der Festung geradezu lieb gewonnen
hatte.
Dann öffnete er die Tür und trat nach draußen. Janis erwartete ihn mit einem aufmunternden Lächeln. Theasa fletschte die Zähne, was dasselbe zu sein schien.
„Bist du bereit?“, fragte sie Sothorn.
Instinktiv schüttelte er den Kopf: „Nein.“
„Niemand ist je dafür bereit“, nickte Janis verständnisvoll.
Sie flankierten ihn und führten ihn in den Flur. Es war gespenstisch still in der Festung, als sie ihn über verschlungene Pfade auf eine tiefere Ebene der Anlage brachten. Dort war es
deutlich wärmer – Sothorn vermutete, dass weit unter ihnen heißes Wasser durch
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