Zenjanischer Lotus (German Edition)
beraubt, sich in seinem Element zu bewegen.
„Wird er je wieder fliegen können?“, fragte Sothorn, als ihn das Schweigen zu ersticken drohte.
Augenscheinlich überrascht sah Geryim auf. Er runzelte die Stirn: „Warum fragst du?“
„Weil es mich interessiert?“
„Ich weiß es nicht“, gab Geryim barsch zurück. „Ich kann es nur hoffen.“
„Für ihn oder für mich?“
Darauf bekam er keine Antwort.
Syv hob stolz den Kopf. Das Spiel der bläulich schimmernden Federn an seinem Hals zeugte von Schönheit und Eleganz.
Sothorn empfand Mitleid mit dem Tier. Er griff sich an den Oberarm, spürte die Kerben der eingebrannten Halbmonde. Seltsamerweise ging ihm die Verletzung des Vogels näher als der Tod,
den er seinen oftmals unschuldigen Opfern gebracht hatte. Vielleicht lag es daran, dass er sie nach getaner Arbeit verlassen hatte.
Syv aber saß vor ihm, hüpfte unbeholfen, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren und stellte ein lebendes Mahnmal für Sothorns Angriff dar.
Als spüre der Adler die Aufmerksamkeit, die ihm entgegen gebracht wurde, löste er sich aus dem schützenden Wall von Geryims Beinen. Er schlug mit seinem gesunden Flügel,
breitete ihn aus und schien verwundert, als die verbundene Schwinge nicht folgte.
Ungeschickt hüpfte er einige Schritte weit und beäugte Sothorns aus klugen, runden Vogelaugen. Vielleicht langweilte Syv sich ebenso wie die Männer, denn nach und nach erkundete
er den Raum.
Auf seiner Wanderung näherte Syv sich langsam Sothorn. Mal ein Schritt vorwärts, mal zwei, danach einer zurück. Das aufgeschüttete Stroh schien sein Interesse zu
wecken – vielleicht auch der fremde Mensch, der darauf saß. In seinem Gebaren erinnerte er in diesem Augenblick eher an einen scheuen Hund als an einen Raubvogel.
Fasziniert ließ Sothorn es zu, der Syv sich ihm näherte, den scharfen Schnabel nach seinem Zeigefinger reckte und vorsichtig hineinhackte. Nicht, um zu verletzen, sondern um zu
prüfen, wie der fremde Menschling sich anfühlte. Er knabberte an seiner Fingerkuppe und ließ dabei die winzige Zunge sehen, die sich hinter dem Wall aus Horn verbarg.
„Syv, komm zurück“, grollte Geryim, der sich aufgesetzt hatte und das Schauspiel mit leerer Miene beobachtete.
Doch der Adler drehte ihm lediglich kurz den Kopf zu, um den nächsten Finger Sothorns zu erkunden. Es war ein eigenartiges Gefühl. An der Grenze zum Schmerz, aber gut auszuhalten.
„Gehorcht dir nicht, dein gefiederter Freund, hm?“
Sothorn konnte sich das Sticheln nicht verbeißen. Bestimmt kochte Geryim innerlich, weil der Adler, dessen Verletzung er so übel nahm, ihn neugierig in Augenschein nahm. Es schadete
nicht, ihn zu provozieren. Geryim ließ schließlich auch keine Gelegenheit aus.
Zu seiner großen Verwunderung schüttelte der Wargssolja den Kopf. Er musterte Sothorn aus zusammengekniffenen Augen, bevor er sagte: „Du weißt nichts über mich oder
mein Volk. Denn ja, Syv ist mein Freund. Nicht mein Diener. Er folgt meiner Führung auf der Jagd, aber er hat einen eigenen Willen und weiß, was er tut.“
„Jetzt auch?“
Sothorn konnte sich nicht bezähmen. Wenn sie ihm ausgerechnet Geryim zur Seite stellten, wollte er ihn wenigstens aufziehen dürfen. Warum immer er solche Freude daran hatte, es war
eine Abwechslung.
„Keine Ahnung, vielleicht hat ihn dein Dolch am Kopf getroffen. Das würde einiges erklären“, schoss Geryim zurück.
Sothorn lachte auf und richtete seine Aufmerksamkeit auf den Adler, sah nicht das nachdenkliche Flackern in den Augen seines Mitgefangenen.
Geryim rief nicht erneut nach Syv, sondern ließ es zu, dass der Adler das neue Mitglied der Bruderschaft kennenlernte. Ausgiebig umkreiste er den Neuling, bevor er sich neben ihm im Stroh
niederließ.
Gönnerhaft gestattete er es Sothorn, ihm über das Gefieder zu streichen, bevor es für Geryim und Syv an der Zeit war zu gehen.
Als es dunkel wurde, wünschte Sothorn sich, er hätte einen Dolch, um eine Markierung in den Fels zu kratzen. Den ersten Tag hatte er überstanden. Zwanzig sollten folgen.
Gespalten
Nach der ersten Nacht hatte Sothorn zwei Probleme.
Zum einen klebte seine Zunge am Gaumen und zum anderen langweilte er sich. Er hatte eine Ahnung, dass er sich in den folgenden Wochen in diese frühe Phase des Entzugs zurücksehnen
würde. Langeweile ließ sich besser ertragen als bohrende Schmerzen. Doch diese Gewissheit ließ die Zeit nicht schneller verfliegen.
Durstig leckte er sich
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