Zenjanischer Lotus (German Edition)
Ellenbogen fuhr. Allmählich wurde jede noch so vorsichtige Bewegung zur Qual.
Das Licht in der Kammer war schlecht, und Sothorn musste sich eingestehen, dass er das Zeitgefühl verloren hatte. Ihm kam die irrwitzige Hoffnung, dass er lange geschlafen und es fast
geschafft haben könnte.
„Welcher Tag ist es?“, fragte er mit einem kindlichen Unterton in der Stimme.
Theasas Miene war kalt, als sie erwiderte: „Tag 6.“
Ihre Antwort schmerzte Sothorn. Gegen seinen Willen begann die wachsende Verzweiflung ihn zu schütteln.
Der sechste Tag von einundzwanzig. Das konnte er nicht schaffen. Das würde er nicht ertragen. Sie hatten ihm nicht gesagt, dass der Entzug seinen Verstand angreifen würde. Von
Schmerzen und Krämpfen war die Rede gewesen. Nicht von fremden Stimmen und der Erinnerung anderer Wesen.
Seine weinroten Haare fielen ihm vor das Gesicht, als er sich vorn über beugte und sich wiegend wisperte: „Ich schaffe es nicht ... es ist zu schwer. Ich will nicht
mehr ...“
„Doch, du schaffst es“, gurgelte Theasa an seiner Seite. „Ich habe es geschafft, und du schaffst es auch.“
Sothorn hasste sie für die Kälte in ihrer Stimme. Etwas Gnadenloses ging von ihr aus.
Er beteuerte: „Ich kann das nicht. Wirklich nicht. Sie lassen mich nicht in Ruhe.“
„Du musst sie nicht fürchten. Sie können dir nichts anhaben. Sie sind lange verweht und kehren nicht zurück.“
„Aber das Feuer ist überall und die Festung brennt. Der Stein brennt. Wieso brennt der Stein?“ Sothorn schrie inzwischen.
„Weil die Adelijar mächtig waren und ihre Feinde ebenso“, erklärte Theasa geduldig. „Wir wissen nicht, was geschehen ist. Aber wir wissen, dass wir alle an ihrem
Leben teilhaben, wenn unser Geist sich öffnet.“
Sothorn konnte diese Neuigkeit kaum verarbeiten. Er war auch nicht in der Lage zu fragen, ob das bedeutete, dass er von nun an mit diesen Albträumen leben musste. Er wollte nur, dass es
aufhörte.
„Du musst keine Angst haben.“
Theasa berührte ihn. Erst an der Schulter, dann strichen ihre Finger an seinem Arm entlang bis zu seiner Hand, die sie mit unerwarteter Zärtlichkeit umfasste. Ihre Haut war kühl
und erinnerte Sothorn daran, dass das Fieber in ihm wütete.
Nervenfieber.
„Wie soll ich das schaffen?“, fragte er hilflos und wandte sich ihr zu. „Noch fünfzehn Tage ... ich brauche ... ich brauche ... den Lotus.“
Es war das erste Mal seit Beginn seines Martyriums, dass er es aussprach. Dass er zugab, wie sehr er sich nach der sanft brodelnden Flüssigkeit sehnte, die seinen Geist einhüllte und
ihn unempfindlich machte.
„Nein, brauchst du nicht.“ Theasas harte Stimme und ihre eisigen Augen standen im krassen Gegenzug zu ihrer feingliedrigen, streichelnden Hand. „Und du wirst es schaffen. Mit
eisernem Willen und guten Freunden, die dich dabei unterstützen.“
„Ich habe keine Freunde“, erinnerte Sothorn sie bitter.
„Natürlich hast du die.“
Er vermochte nicht zu sagen, ob er sich auf Theasa warf, oder ob sie ihn mit sanftem Druck an sich heranzog. Doch mit einem Mal ruhte sein Kopf in ihrem nach Leder riechenden Schoss,
während Krämpfe durch seinen Körper zuckten. Trotz der Schmerzen spürte er Theasas Hände überdeutlich. Die eine hielt seine Finger umschlossen, die andere ruhte auf
seiner heißen Stirn und kühlte sie.
Aus weiter Ferne hörte er es raunen:
„Ilder, øuser kjoldæ.“
Schlaf, junger Mann.
Besucher
In den Untiefen seines Geistes verfolgten ihn die huschenden Schatten, das Knarren und Wispern eines dichten Waldes bei Nacht. Irgendwo in der Dunkelheit lauerte der Abgrund, der darauf wartete,
ihn zu verschlingen. Unsichtbar und damit unausweichlich.
Ab und an drang der silberne Lichtstrahl eines Mondes durch seine Gedankenwelt und gönnte ihm Orientierung, nur um gleich darauf in einem undurchdringlichen Gewirr aus verkrüppelten
Ästen zu verschwinden.
Seine Geistgestalt strauchelte über Pfade, die nie ein Mensch betreten hatte.
Sothorns Körper hingegen ruhte an einem anderen Ort. Lag auf kaltem Stein zusammengerollt, da er das Rascheln des Strohs an seiner Haut nicht ertragen konnte.
Zu viele Geräusche, zu viele Stimmen. Die realen brachial laut, die irrealen leise und zart, sodass er angestrengt lauschen musste, um sie verstehen zu können.
Und Sothorn wollte sie verstehen. Sie waren gut für ihn.
„Sal pænen ilder, ylis heris.“
Du musst schlafen, mein Kind.
„Will ich doch“, schrie es in
Weitere Kostenlose Bücher