Zenjanischer Lotus (German Edition)
Sothorn. Zeitgleich wälzte er sich manisch auf dem Steinboden und rannte wie ein Hase durch das Unterholz seines seelischen Finsterforsts.
„Ich will doch schlafen, aber ich kann nicht ... es tut weh ... meine Kehle ist so eng ... ich ersticke ...“
„Shen, heris, shen. Sal enevren. Shen. Dulgærer hi dys aj menjørgen.“
Ruhig, Kind, ruhig. Du träumst. Lass mich für dich singen.
Die warme Frauenstimme in Sothorns Kopf vibrierte sich in ungeahnte Höhen. Es klang, als hätte sich das Rauschen eines Wasserfalls mit dem Zwitschern von Singvögeln gepaart,
eingehüllt in einen reinweißen Stoff, der leichter als Luft war.
Der Gesang linderte seine Schmerzen, heilte seine Wunden und schlug neue, denn die Fremde weckte eine Erinnerung in ihm, die er vor langer Zeit begraben hatte.
„Mutter?“, sickerte ein verlorenes Wort über seine aufgesprungenen Lippen.
Warum war sie nicht hier? Warum half sie ihm nicht? Warum hatte sie zugelassen, dass sie ihn fortbrachten?
Sothorn hatte geweint und sich gewehrt, nach seinen Häschern geschlagen, aber sie hatten ihn über den Rücken eines Pferdes geworfen und ihm unter dessen Bauch Füße und
Handgelenke aneinander gebunden. Die Taue hatten seine Haut aufgeschürft, und sein Urin war ungehindert in das Fell des bemitleidenswerten Tieres geronnen.
Die Melodie in seinem Kopf steigerte sich in einem zarten Crescendo, streichelte ihn von innen. Jeder Ton war Berührung und Versprechen zugleich.
Welches hilfreiche Wesen auch immer sich seiner angenommen hatte, Sothorn liebte es, wie er niemanden mehr geliebt hatte, seitdem er seiner Familie entrissen worden war.
Jeder, der versuchte, ihn von der zärtlichen Stimme zu trennen, war ein Feind.
Entsprechend ungehalten reagierte er, als grobe Hände nach ihm griffen und ihn halb aufrichteten. Die Finger in seinem Nacken waren in seiner Wahrnehmung mit Säure bestrichene Klauen,
die sich tief in sein Fleisch brannten. Der Becher, den man ihm an die Lippen setzte, brannte auf der wunden Haut wie Feuer.
„Du musst etwas trinken.“
Sothorn schüttelte sich und schlug um sich. Er traf auf Widerstand. Er hatte keinen Durst.
Bedürfnisse wie Hunger oder Durst waren Bestandteil einer Welt, in der er nicht sein wollte. Der Vorgang des Trinkens verlangte ihm Kräfte ab, die er nicht hatte. Selbst wenn er es
schaffte, das Wasser zu sich zu nehmen, ohne sich zu verschlucken, wollte es nicht viel später wieder aus ihm heraus, und aufstehen tat weh.
„Verdammt, wenn du schon nichts essen kannst, musst du wenigstens etwas trinken. Sothorn!“
Kalter Regen rann über sein Gesicht und benetzte seine Lippen. Warum ließen sie ihn nicht in Ruhe? Er fand Frieden, wo er war. Man kümmerte sich um ihn. Man sang seine Schmerzen
beiseite.
Aber Geryim ließ ihn nicht. Wieder spritzte Wasser in Sothorns Gesicht und zwang ihn Stück für Stück zurück in die steinerne Kammer. Zurück auf den harten Boden,
der ihm ins Fleisch schnitt.
„Du Bastard“, hauchte er kraftlos.
Zu gern hätte er mehr gesagt. Getobt, geschimpft, aber sein Kehlkopf war unter dem Druck des Eises, das der Mangel an Lotus in seinem Körper säte, nahezu erstarrt.
Lotus. Wie sehr sehnte er sich danach. Nur ein Löffel voll, um die ärgsten Schmerzen zu lindern. Genug, um seinen Mund zu benetzen.
Ein einziger Tropfen nur. Er brauchte nicht viel. Er war doch auf einem guten Weg.
Alles, was er brauchte, war eine Atempause, in der sich seine Gliedmaßen entkrampfen konnten. Ein paar Stunden Schlaf ohne brennenden Stein und Albträume von Toten, die ihn aus ihren
Gräbern heraus verfolgten. Gräber, in die er sie gebracht hatte.
„Fem havren skos. Sal pænen zgødden. Zsena, ylis heris.“
Er hat recht. Du musst trinken. Bitte, mein Kind.
So weich, so liebevoll.
Viel angenehmer als die groben Finger, die sein Kinn fixierten und ihm Flüssigkeit einflößen wollten. Wenn nötig auch mit Gewalt.
Ein Rinnsal auf seiner Zunge. Der erste Schluck gelang Sothorn, doch schon beim zweiten drang das Wasser in seine Luftröhre und ließ ihn qualvoll husten. Jemand klopfte ihm auf den
Rücken, beugte ihn nach vorne.
Sothorn schlug zu.
„Mann!“, zischte es an seinem Ohr. „Du kannst nicht trinken, du kannst nicht allein pissen. Du brauchst Hilfe. Also hör endlich auf, ständig nach mir zu
schlagen.“
Tat Sothorn. Stattdessen wandte er den Kopf, kämpfte sein Kinn frei und biss nach dem Holzbecher, aus dem das Wasser kam, das ihn zu ertränken drohte.
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