Zero Day
mir glauben. Seitdem habe ich meinen Geburtstag nie wieder gefeiert.«
»Wie kam es dazu, dass Sie sie gefunden haben?«
»Als sie nicht erschienen sind, haben wir versucht, sie anzurufen. Vergeblich. Daraufhin haben wir uns aufgeteilt. Es gab drei Strecken, die sie fahren konnten. Häufig werden Straßen wegen irgendwelcher Arbeiten gesperrt, deshalb war es nie sicher, welchen Weg sie nehmen. Wir mussten alle Möglichkeiten berücksichtigen. Sam fuhr eine Straße entlang, Jean eine andere. Ich nahm die dritte Strecke. Sie war die richtige.« Wieder kamen ihm Tränen; diesmal blickte Puller zur Seite.
»Wo war Roger während dieser Geschehnisse?«
»Er hat sich zu Hause betrunken.« Langsam schüttelte Randy den Kopf. »Wissen Sie, was er gesagt hat, als er davon erfuhr?«
»Was denn?«
»›So was kommt vor.‹ Das hat der Scheißkerl zu mir gesagt. ›So was kommt vor.‹«
»Es tut mir sehr leid, Randy.«
»Klar, Mann«, lautete Randys knappe Antwort.
»Ich kann vollauf verstehen, dass so etwas einen Menschen lange beschäftigt.« Puller senkte den Blick.
»Es geht mir gut.«
»Glauben Sie wirklich?«
»Ja, echt. Mann, niemand kann sich die Verwandtschaft aussuchen. Man muss mit der Familie leben, die man hat.«
Darüber wüsste ich gern mehr, dachte Puller. »Und Jean? Wie hat sie reagiert?«
»Sie geht ihren Weg, zieht immer ihr eigenes Ding durch. Sie versteht es, ständig aktiv zu sein. Natürlich war sie genauso fertig wie wir alle. Aber sie ist jung und reich, und sie hat gute Gründe zu leben. Eine Familie. Kinder, die sie großziehen muss.«
»Und Sie? Sie haben auch ein langes Leben vor sich.«
»Meinen Sie?«
Die Art, wie Randy die Frage stellte, bewog Puller dazu, ihn scharf anzusehen. »Denken Sie etwa daran, es vorzeitig zu beenden? Das wäre eine große Dummheit.«
»Nein, ich bin es gar nicht wert, dass irgendjemand um mich trauert.«
»Gehen die neuerlichen Morddrohungen gegen Roger auf Sie zurück?«
»Ich wusste nicht mal, dass er welche erhält. Wie kommen Ihre Ermittlungen voran?«
»Vermutlich zerreißt man sich im ganzen Ort die Mäuler darüber.«
»Ziemlich viel, ja.«
»Die Ermittlungen gehen reichlich zäh voran.«
»Kaum vorstellbar, dass jemand so viele Menschen umbringt.«
»Haben Sie Eric Treadwell oder Molly Bitner gekannt?«
»Nein, eigentlich nicht.«
»Entweder haben Sie sie gekannt, oder Sie haben sie nicht gekannt, Randy. Was denn nun?«
»Wir haben uns gegrüßt. Sonst nichts.«
»Kannten Sie sie gut genug, um mir sagen zu können, ob sie mit Drogen zu schaffen hatten? Haben sie damit gehandelt?«
»Nein, nicht. Allerdings habe ich an Drogen kein Interesse, deshalb hätte ich sowieso nichts erfahren. Ich bin bloß vom Bier abhängig.« Über die Schulter blickte Randy hinüber zum Büro des Motels. »Dass Sie Louisa beigestanden haben, fand ich klasse von Ihnen.«
»Ich habe lediglich getan, was jeder tun sollte.«
»So kann man es auch sehen. Sam ist eine tüchtige Polizistin. Sie kann Ihnen eine große Unterstützung sein.«
»Sie hat mich schon in mancher Hinsicht unterstützt.«
»Jean hat mir von der Bombe erzählt. Sie haben Sam das Leben gerettet.«
»Fast wäre es mir nicht gelungen. Es war verdammt knapp.«
»Aus meiner Sicht war’s trotzdem eine Heldentat. Wahrscheinlich sage ich es ihr zu selten, aber ich bin stolz auf meine Schwester.«
»Sagen Sie es ihr. Das Leben ist kurz.«
»Vielleicht denke ich daran.«
»Sehnen Sie sich danach, in den Schoß der Familie zurückzukehren, Randy?«
Der junge Mann stand auf. »Ich weiß es nicht, Puller. Ich bin mir nicht sicher.«
»Irgendwann müssen Sie sich entscheiden.«
»Ja, ist mir klar.« Randy wandte sich ab und entfernte sich in die Richtung, aus der er gekommen war, und Puller schaute ihm nach. Drake in West Virginia erwies sich als erheblich vielschichtigerer Ort, als er erwartet hatte.
49
Am Nachmittag stieg Puller in Charleston an Bord einer kommerziellen Linienmaschine und flog nach Osten. Kaum eine Stunde später landete er auf dem Dulles International Airport. Dort nahm er einen Mietwagen und fuhr zum CID -Hauptquartier in Quantico, um Don White, den Leitenden Spezialagenten, auf den neuesten Stand zu bringen. Danach suchte er seine Wohnung auf und ließ Unab ins Freie. Während der Kater die frische Luft genoss, füllte Puller die Futter- und Wassernäpfe nach und säuberte das Katzenklo. Anschließend vereinbarte er für den kommenden Nachmittag einen Termin mit
Weitere Kostenlose Bücher