Zorn der Meere
vorzulesen bat.
Beendet wurde der Gottesdienst stets mit einem Loblied und
-77-
einem Gebet, in dem der Pfarrer den Herrn um das Gelingen ihrer Reise anflehte.
An diesem Sonntagmorgen trat Pfarrer Bastians nach seinem Schlussgebet auf Conrad van Huyssen zu und begann ein Gespräch mit ihm.
Judith ging ein paar Schritte weiter. Dann blieb sie stehen und musterte den Jonker aus den Augenwinkeln. Als sie bemerkte, dass van Huyssen zu ihr herübersah, senkte sie rasch den Blick.
Es dauerte nicht lange, bis ihr Vater van Huyssen zu ihr führte. »Dieser junge Herr hier«, hub er freudig an, »hat dich für dein heutiges Vorlesen gelobt. Er fand es sehr ergreifend.«
»Ich danke Euch«, murmelte Judith verlegen.
»Er ist auch zutiefst beeindruckt von der Art, in der ich Gottes Wort auslege«, fuhr ihr Vater mit unverkennbarem Stolz in der Stimme fort.
Van Huyssen blickte Judith an. »Ich mag es, wenn Gottes Wort von einer süßen Stimme verbreitet wird«, sagte er leise.
»Dem Menschen sollte Gottes Wort stets süß erscheinen«, bemerkte Pfarrer Bastians mit nachsichtigem Tadel. »Dabei ist es einerlei, welche Stimme es verbreitet.«
Ich kann die Gedanken meines Vaters von seinen Augen ablesen, ging es Judith durch den Sinn. Er fühlt sich geschmeichelt, weil ihm ein Edelmann Aufmerksamkeit zollt.
Aber war es nicht so, dass es ihr ähnlich erging?
Nachdem die beiden Männer noch einige Worte gewechselt hatten, verabschiedete van Huyssen sich mit einer Verneigung.
Judith verspürte einen sanften Schauer über ihren Rücken fahren.
»Ein feiner junger Mann«, verkündete Pfarrer Bastians, nachdem van Huyssen verschwunden war.
»Ich glaube schon«, erwiderte Judith kaum vernehmbar.
-78-
»Seine Bewunderung kann nichts schaden«, erklärte ihr Vater.
»Das ist etwas anderes, als die Zeit mit gemeinen Soldaten zu vertun.«
»Ich denke, vor den Augen des Herrn sind alle Menschen gleich«, entgegnete Judith.
Pfarrer Bastians schüttelte verwundert den Kopf. »Wie kommst du denn auf diese Idee?«, fragte er. »Da musst du etwas falsch verstanden haben.«
Jeronimus* Blicke folgten Lucretia verstohlen. Er wusste, dass er sich in Acht nehmen musste. Niemand durfte etwas von den wilden Begierden ahnen, die in seinem Körper tobten.
Als Lucretia sich umwandte, lächelte Jeronimus freundlich und nickte ihr zu.
Er war jedoch nicht der Einzige, der Lucretia beobachtete, denn oben von der Brücke aus starrte auch der Kapitän hinter ihr her, wobei seine Hände sich so fest um das Geländer krallten, dass die Knöchel weiß hervortraten.
Unten auf dem Boden des Schiffes schwammen die Ratten derweil im Bilgewasser und sättigten sich an dem Abfall, der ihnen entgegentrieb. An den Wänden über ihnen huschten Kakerlaken entlang und ernährten sich von dem, was für sie übrig blieb.
Bald würden alle, die auf diesem Schiff versammelt waren, das Kap der Guten Hoffnung umrunden.
Danach würde ihre Fahrt in den Untergang zügiger vonstatten gehen.
Tafelbucht, Kap der Guten Hoffnung
sechzehnter Tag des April im Jahre des Herrn, 1629
-79-
Die Flotte lag in der Tafelbucht vor Anker. Die holländischen Fahnen hingen reglos an den Masten, denn obgleich der Tag nun zur Neige ging, bewegte sich noch immer kein Lüftchen.
An der Küste schimmerte die stumpfe Spitze des Tafelberges rötlich im Licht der untergehenden Sonne. Von dort aus zog sich ein schwerer, unbekannter Geruch bis zu den Schiffen hin.
Der Kommandeur und die Kaufmannsgehilfen waren bereits an Land gegangen, um die Vorräte für den zweiten Teil ihrer Reise einzukaufen.
Der Kapitän war an Bord zurückgeblieben. Nicht ein Wort des Dankes von diesem aufgeblasenen Wicht, fluchte er grimmig vor sich hin. Nicht eine Silbe der Anerkennung dafür, dass wir dem Zeitplan um einen Monat vorausgeeilt sind.
Dann riss er sich zusammen und spuckte aus. Auch gut, sagte er sich, umso weniger schuldig würde er sich fühlen, wenn er sich nun die Kehle mit etwas Stärkerem als Wasser anfeuchten ging. Zwaantie stand neben dem Kapitän und verfolgte mit weit aufgerissenen Augen das geschäftige Treiben auf den zahllosen Barkassen, die um die Schiffe kreisten und auf denen Waren feilgeboten wurden.
Als über der Reling ein Dingi zu Wasser gelassen wurde, warf Jacobs sich seinen Umhang über, erteilte seinem Steuermann die letzten Befehle und überquerte mit weit ausholenden Schritten das Deck.
»Kommst du, Zwaantie?«, rief er.
»Frau van der Mylen hat gesagt, ich
Weitere Kostenlose Bücher