Zorn der Meere
riss sich ihre Haube vom Kopf, wrang sie aus und ließ sich auch dieses Nass in die Kehle rinnen. Sie hatte zu weinen begonnen. Wie kostbar das Leben wird, dachte sie, wenn man Angst hat, es würde einem genommen!
Auf dem Wrack
Jeronimus hatte die Kajüte des Kommandeurs verlassen und war Stück für Stück vorwärtsgeschlichen, um nach dem Verbleib der anderen zu forschen. Doch als der Sturm losbrach, der Wind gegen die Schiffswand donnerte und sich ein schwerer Brecher nach dem anderen über die Bordwand ergoss, flüchtete er sich in den Stauraum unter dem Bug. Dort zog er ein Stück Segelleinwand über sich und hielt sich die Ohren zu, um dem Tosen und Brausen zu entrinnen. Doch der Geruch nach Salz und Tang zwang sich wie eine Schraube um seine Brust.
In den vergangenen Tagen hatte Jeronimus mitbekommen, dass die Zahl der Menschen auf dem Wrack stetig kleiner geworden war. Der Grund dafür war ihm klar. Sie sprangen über Bord und versuchten, schwimmend die Insel zu erreichen.
Einmal hatte Jeronimus sich ermannt und von der Kajüte des Kommandeurs aus durchs Fenster gelinst. Dabei hatte er einige von ihnen untergehen sehen. Er entsann sich noch der gellenden Hilferufe des dicken Marschalls, den die Kraft bereits nach wenigen Stößen verließ, woraufhin er noch einmal verzweifelt um sich schlug, ehe er versank.
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Van Huyssen und der Jonker van Os waren gemeinsam über Bord gesprungen und hatten sich an einem umhertreibenden Balken festgehalten. Etliche hatten es ihnen nachgetan, waren entweder allein oder zu zweit auf treibende Holzteile zugekrault und entfernten sich Wasser tretend.
Zu trinken und zu essen hatte Jeronimus nichts mehr. Ihm war auch bewusst, dass weder der Kommandeur noch der Kapitän zurückkommen würden, um ihn zu holen. Was Jacobs betraf, wunderte es Jeronimus nicht. Zum einen hatte er ihm nie getraut und zum anderen wäre er selbst nicht anders verfahren.
Vermutlich hatte Jacobs dem Kommandeur inzwischen die Kehle durchgeschnitten und segelte in Richtung Molukken.
Vom Kommandeur kam Jeronimus sich indes verraten vor.
Der Mann hatte kein Recht, seinen Unterkaufmann zurückzulassen. Im Geist sah er sich auf dem Überrest der Batavia hocken, bis der Tod nach ihm griff und ihn mit sich in sein Schattenreich zog.
Jeronimus kroch tiefer in sich hinein und weinte vor Wut und Furcht.
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XV
Ist es nicht eigentümlich, dass die Menschen so wenig Vertrauen in ihren Glauben haben, wenn es hart auf hart kommt?
Nehmen wir einmal an, ein Mensch glaubt, nach dem Ende seines Lebens erwarte ihn ein liebender Gott mit seinen himmlischen Heerscharen an der Pforte des Paradieses. Warum, frage ich Sie, klammert er sich dann derart verzweifelt an sein Leben, wenn es im Vergleich zu dem, was danach folgt, doch nur armselig ist?
Oder nehmen wir Jeronimus! Er war doch von seinem erhabenen Schicksal überzeugt, oder etwa nicht? Warum also beutelt ihn der Kleinmut, sobald er auf ein Hindernis trifft?
Ich gebe zu, dass Jeronimus mich ein wenig enttäuscht. Wie kann er denken, ich gäbe ihn auf, nachdem ich ihn so weit kommen ließ und noch so vieles mit ihm plane?
Ich könnte ihn beruhigen. Ich bin mit ihm noch längst nicht fertig.
Auf dem Wrack
An diesem Tag war das Meer so ruhig wie ein stiller See. Der blaue Himmel spiegelte sich in den glatten Wellen, die sich sanft um das Wrack kräuselten. Jeronimus schob sich langsam aus seinem Unterschlupf hervor und spähte aufmerksam nach allen Seiten.
Die gesplitterten Masten und das Gewirr der Taue und Leinen war nach wie vor vorhanden, doch das furchtbare Kratzen und Schaben des Kiels war verstummt. Die Bohlen und Planken des
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Schiffes ächzten nur noch leise. Die gestrandete Batavia lag verlassen da.
Über Jeronimus segelte eine einsame Möwe hinweg und stieß einen heiseren Schrei aus.
»Ist da jemand?«, rief Jeronimus. »Ich bin es! Der Unterkaufmann.«
Es war in der Tat noch jemand da. Ein Matrose. Er lag bäuchlings auf dem Deck, halb unter dem umgestürzten Mast begraben. Seine Glieder standen seltsam verdreht von ihm ab, und um seinen Kopf hatte sich eine dunkle Lache ausgebreitet, die getrocknet war und nun verklumpte.
Jeronimus hielt sich an der Reling fest und hangelte sich über das schräg stehende Deck weiter vor. Es sah aus, als taste er sich an einem steilen Hang entlang. Dann vernahm er ein raschelndes, knisterndes Geräusch. Es stammte von den Taschenkrebsen, die mittlerweile an Bord gelangt waren. Sie hatten
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