Zwielichtlande
Wili geworden und musste bis in alle Ewigkeit durch die Nacht geistern.
Hinter ihr ertönte ein Geräusch, sie drehte sich um.
Albrecht, ihre Liebe, war gekommen, um ihr Lebewohl zu sagen.
Vielleicht verlängerten die Sterne den Augenblick und sie konnten ein letztes Mal tanzen, bis zum Morgengrauen.
Entweder verfolgte ihn dieser Baum, oder Custo lief bereits zum dritten Mal an seinem knorrigen Stamm vorbei. Beides war möglich, also ging er weiter und achtete auf jedes Geräusch und jede Bewegung, die ihn zu Annabella führen konnten. Er sah nur den riesigen leuchtenden Wald, der aus übereinanderliegenden Schattenbahnen erwuchs, und hörte flüsternde Stimmen, die sich über seinen Weg lustig machten. Was würde er für einen Beutel Brotkrumen geben. Er kam nirgends an und hatte es mehr als satt.
»Annabella!«, rief er in regelmäßigen Abständen. Wenn ein anderes Schattenwesen käme, würde er die Kreatur festnageln und nach dem Weg fragen, aber bis auf die leisen Stimmen schien der Wald gänzlich unbewohnt.
Als er bewusst kehrtmachte, nahm er zum ersten Mal eine Bewegung wahr. Er stürzte darauf zu und krabbelte auf eine Anhöhe aus dicken Wurzeln, um besser zu sehen.
»Annabella!«, rief er in den Wald hinein.
Plötzlich stand er vor einem bewaffneten Mann in einem graugrünen Tarnanzug. Custo blieb stehen. Es war Adam, der ihn mit zusammengebissenen Zähnen und entschlossenem Blick ansah, als wollte er sagen: »Ich weiß, was zu tun ist.«
»Was machst du hier?«, fragte Custo, teils wütend, teils besorgt. Adam sollte Luca vor den Geistern warnen.
»Ich bin dir gefolgt, um dir zu helfen«, sagte Adam, »und ich habe Annabella gefunden.«
Custos Herz machte einen Sprung. Adam traute er zu, dass er sich in diesen wandelnden Wäldern zurechtfand. Niemand anderem hätte er das geglaubt. »Bring mich zu ihr.«
»Hier entlang.« Adam verfiel in einen vorsichtigen Laufschritt, verlangsamte das Tempo an unübersichtlichen Stellen und prüfte unsicheres Gelände, bevor es betrat.
Custo hielt sich dicht hinter ihm. »Wie hast du mich gefunden?«
»Das hätte jeder geschafft. Du machst einen Höllenlärm.« Sie drangen tiefer in die Schatten vor, die einzelnen Lagen ließen sich nicht mehr unterscheiden. Kaum merklich verlangsamte Adam das Tempo, schien aber kein Problem mit der intensiven Dunkelheit zu haben.
Das war gut, denn Custo wollte so schnell wie möglich zu Annabella und konnte an nichts anderes mehr denken. Er musste ihm einfach nur folgen.
»Hat der Wolf Annabella in seiner Gewalt?«, fragte Custo und ahnte die Antwort bereits.
»Ja. Ohne Hilfe bin ich nicht an sie herangekommen.«
Sie erreichten eine tiefe Schlucht und balancierten über einen umgefallenen Baumstamm, rechts und links von ihnen gähnte ein schwarzes Loch. Als sie den Wald auf der anderen Seite erreichten, perlte Schweiß auf Custos Haut.
»Wie weit noch?«, fragte Custo. Sollte Adam einer Spur folgen, konnte Custo sie nicht erkennen.
»Wir sind gleich da«, antwortete Adam.
Aber es hörte sich nach noch vielen gleichgültigen Bäumen an.
Und verdammt, wenn der nicht genauso aussah wie der knorrige Stamm von vorhin.
Der knorrige Stamm.
Schockiert blieb Custo stehen, Angst ließ das Blut in seinen Adern gefrieren. Das Flüstern um ihn herum verstärkte sich und aus dem Augenwinkel sah er schlanke Gestalten, die ihn beobachteten und rasch wieder hinter den alten Bäumen verschwanden. Wahrscheinlich waren sie die ganze Zeit da gewesen.
Adam eilte ein paar Schritte voran, dann drehte er sich um. »Was ist los?«
Custo schluckte heftig. »Was bist du?«
Er wäre Adam noch stundenlang gefolgt, ewig.
Wie dumm.
Der Mann vor ihm konnte nicht Adam sein. Das hätte Custo gleich wissen müssen. Adam wäre niemals durch das Gemälde in die heimtückischen Zwielichtlande gekommen und hätte Talia und die Babys zurückgelassen. Für nichts und niemanden. Adam würde Luca vor den Geistern warnen, auch wenn der ihm zuvor seine Hilfe versagt hatte.
Das Flüstern schwoll zu lautem, ohrenbetäubendem Zirpen an. Es hörte klang, als hielten sich Grillen in den Blättern versteckt.
»Komm schon«, sagte Adam und wollte weiterlaufen. »Der Wolf hat sie in seiner Gewalt.«
Obwohl Custo daran zweifelte, gab er sich einen Ruck, machte kehrt und ließ Adam stehen. Er leugnete seine Anwesenheit. Die wohlriechende Luft gewann an Dichte und bildete einen Widerstand, während Custo sich von jahrelanger Freundschaft und Vertrauen losriss.
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