Zwielichtlande
wird.«
Jens Sprechgerät knackte. »Wo wirst du sein?«
Custo dachte, dass das klar wäre, aber um Missverständnisse zu vermeiden, wiederholte er es noch einmal. »Bei Annabella.«
Annabella blieb vor der Tür ihres Nachbarn Peter stehen und gab Custo ein Zeichen, dass sie noch eine Minute Zeit brauchte. Ja, richtig . Sie brauchte deutlich mehr als eine Minute; die Art, wie Custo sie ansah, weckte ihre Lust und verursachte einen Kurzschluss in ihrem Gehirn. Da er die ganze Zeit in ihrer Nähe bleiben musste, um sie zu beschützen und den Wolf in den Schatten zu drängen, kam sie nicht zum Luftholen. Ihre Abhängigkeit von ihm beunruhigte sie genauso wie die Tatsache, dass sie sich derart zu ihm hingezogen fühlte.
Sie musste sich auf Giselle konzentrieren. Dem Rest der Welt, inklusive Custo dem Engel, konnte sie nicht trauen. Das alles war zu anders, zu fremd, zu gruselig, um es zu begreifen. Sie musste sich auf das Vertraute konzentrieren.
Aber, Himmel hilf, wenn die Vorstellung nicht wäre, könnte sie leicht etwas sehr Dummes tun. Vorhin wäre es fast passiert. Er hatte so gut ausgesehen und so gut gerochen und dann hatte er sich auch noch so gut angefühlt , besser als alles, was sie sich jemals mit und ohne die Hilfe von Filmen oder erotischer Literatur vorgestellt hatte.
Ihr Verstand hing an einem seidenen Faden. Nur das Tanzen konnte sie retten.
Aber erst musste sie sich um Peter kümmern.
Sie klopfte an seine Tür. Schuldbewusst kaute sie an einem Fingernagel, eine Angewohnheit, die sie sich nur mit großen Schwierigkeiten abgewöhnt hatte. Es war eine Qual, mit ihm zu reden, aber wenn sie ein paar Tage nicht zu Hause auftauchte, ohne Peter Bescheid zu sagen, würde er sich Sorgen machen. Sie informierte ihn immer. Beim Einzug war er so nett zu ihr gewesen. Sie hatte sich damals so wenig in der Stadt ausgekannt, dass sie beinahe den Mietvertrag gekündigt hätte, um mit einem Haufen anderer Tänzer zusammenzuziehen, obwohl sie wirklich lieber allein wohnen wollte.
Peter öffnete sofort und schien begeistert.
»Annabella.« Seine Stimme klang dunkler als sonst, beinahe rau. Er streckte eine Hand aus und wollte sie berühren, besann sich jedoch eines Besseren und griff stattdessen nach seinem Schenkel. Er zitterte.
»He, Peter, ich wollte dir nur sagen, dass ich wahrscheinlich ein paar Tage nicht zu Hause bin. Ich bin … « Annabella hörte, wie Custo telefonierte und irgendetwas von Bühnensicherheit redete. Sie blickte in seine Richtung.
Peter streckte den Kopf aus der Tür, um ebenfalls hinüberzusehen, zuckte aber zusammen und wich abrupt zurück. Ja, mit Custo konnte er nur schwer mithalten, vor allem, wenn er sie mit diesem besitzergreifenden Blick ansah.
Die Begeisterung in Peters Gesicht wich Enttäuschung. »Das verstehe ich nicht«, sagte er beinahe knurrend. » Wir gehören zusammen. Du bist zu mir gekommen.«
Annabella errötete, als er ihr sein Interesse gestand. Das hatte er noch nie gesagt. Allerdings hatte sie vermutet, dass er gern einmal mit ihr ausgehen würde.
Was war heute mit diesen unmöglichen Männern los? Annabella hatte ihm nie Hoffnungen gemacht. Sie wusste nicht, wann seine Gefühle über die Grenze reiner Freundschaft hinausgewachsen waren. Vielleicht hatte er immer schon mehr gewollt. Er war attraktiv – groß, dunkle Haut, ausdrucksstarke schwarze Augen, allerdings mit Ende dreißig etwas zu alt für sie. Vielleicht hatte es in den letzten Monaten einen Moment gegeben, in dem romantische Gefühle aufgekommen waren. Aber nach Venroys Angebot der Giselle hatte ihre gesamte Aufmerksamkeit nur noch dem Studio gegolten.
»Es tut mir so leid. Aber das ist ein Missverständnis.« Zu allem Überfluss stand der attraktive, finster blickende Custo im Eingang nebenan, während sie versuchte, Peter behutsam eine Abfuhr zu erteilen. Sie wollte ihn nicht noch mehr verletzen, indem sie ihn kränkte.
»Ich kann mich um dich kümmern«, erklärte Peter. »Ich kann dir geben, was du brauchst.«
Sie hatte ihm eine Standardabfuhr erteilen wollen, von wegen Freunde bleiben und so weiter, aber seine letzte Bemerkung klang so verzweifelt, dass sie ihre Worte für sich behielt. Die Unterhaltung verlief jetzt nicht mehr nur unangenehm, sondern beunruhigend. Es war Zeit zu gehen.
»Du hast schon genug für mich getan«, sagte Annabella. »Ich muss gehen. Bin schon spät dran. Ich wollte nur nicht, dass du dir Sorgen machst, wenn ich ein paar Tage verschwinde. Nach der Vorstellung
Weitere Kostenlose Bücher