Zwischenwelten (German Edition)
Dein Bruder und ich wollten gerade einen kleinen Schwimmwettkampf machen.« Er nickt Kivan zu. »Magst du noch?«
»Ha!« Kivan springt auf. »Den verlierst du.«
»Wetten, dass nicht?« Tio grinst. Er zieht sein Hemd aus, weil es seine Bewegungen im Wasser zu sehr behindern würde. Die Sandalen hat er schon abgestreift. Er wartet, bis der Runjijunge sein kompliziert geschlungenes Kopftuch abgelegt hat. Zu Tios Verwunderung ist Kivan darunter vollkommen kahl. Rasieren sich die Runji den Kopf, oder haben sie ganz einfach keine Haare?
»Los!«, ruft Kivan und verschwindet mit einem eleganten Kopfsprung im Fluss.
»He, warte!«, schreit Tio, als wäre es ihm wichtig, ob er gewinnt oder verliert. »Das ist nicht fair.« Dann springt er Kivan hinterher.
Es kommt, wie er erwartet hat. Der Junge aus dem Flussvolk – sein Leben lang gewohnt, auf dem Wasser zu wohnen – schwimmt ihm mit Leichtigkeit davon. Tio strengt sich nicht besonders an, ihn einzuholen, er hat schon Mühe, das gegenüberliegende Ufer zu erreichen. Die Strömung ist so stark, wie er befürchtet hat, und es scheint, als würde es endlos dauern, bis er die andere Seite erreicht. Keuchend steigt er kurz darauf am unbewohnten Ufer gegenüber dem Runjidorf aus dem Wasser.
»Wo bleibst du denn, du lahme Ente«, spottet Kivan. »Nennst du das Schwimmen? Du siehst aus wie ein Affe, der aus Versehen ins Wasser gefallen ist.«
»Tja.« Tio bleibt ganz ruhig. Er versucht, sich nichts aus der Verachtung des Jungen zu machen, das ist im Augenblick völlig egal.
Kivan zeigt aufs Wasser. »Willst du es noch mal probieren?«
Tio nickt. »Sobald ich wieder ein bisschen Luft hab!« Japsend und keuchend bleibt er noch kurz im Sand liegen, dann stemmt er sich hoch. »Okay, ich bin so weit, und diesmal verlierst du.«
Laut lachend rennt Kivan wieder ins Wasser. »Das glaubst aber auch nur du!«
Tio geht hinter ihm her, lässt sich ins Wasser plumpsen und macht ein paar halbherzige Schwimmzüge. Innerhalb weniger Sekunden liegt Kivan meterweit in Führung. Dann hört Tio ganz auf zu schwimmen. Wasser tretend blickt er den wirbelnden Armen des Jungen nach, der wie ein Speer durch die Wasseroberfläche schneidet. »Viel Erfolg und auf Nimmerwiedersehen.« Er dreht sich um und kriecht ans Ufer. »Und jetzt sieh zu, dass du verschwindest«, murmelt er vor sich hin. Aber er kann es doch nicht lassen, noch einen Blick auf Hala zu werfen, die auf dem Steg gegenüber darauf wartet, dass die Schwimmer zurückkommen. Sie hat ihn gesehen, und natürlich hat sie auch gesehen, wie er sie beide ausgetrickst hat. Boshaft hebt er die Hand und winkt ihr zu. Zu seiner Überraschung winkt sie in aller Seelenruhe zurück.
Tio läuft los, hat allerdings keine Ahnung wohin. Auch an diesem Ufer steht das Schilf in einem dichten Gürtel am Wasser, und er verschwindet schnell zwischen den hohen Stängeln, sodass er für jemanden, der ihn womöglich vom Dorf der Runji aus beobachtet, nicht mehr zu sehen ist.
Es ist blöd, dass er seine Sandalen ausziehen musste, denn alles sticht ihn in seine bloßen Füße. Und ohne Hemd kommt er sich entschieden zu nackt vor. Er hat das alles aus einer plötzlichen Regung heraus gemacht, ohne vorher lange darüber nachzudenken, aber langsam werden ihm nun die möglichen Nachteile seines überhasteten Plans deutlich. Da läuft er hier halb nackt an einem Ufer entlang, das ihm zwar Sichtschutz bietet, doch mehr auch nicht. Hier gibt es keine Häuser, keine Stege, keine Holzterrassen. Keine Menschen.
Nach einiger Zeit steigt Tio auf einen kleinen Hügel, um sich zu orientieren. Auf der anderen Seite des Flusses sieht er das Runjidorf, und etwas weiter entfernt erkennt er die Dächer von Salzländer-Häusern, doch auf dieser Seite ist wenig los. Weit entfernt sieht er ein Dach, das zu einem Bauernhof gehören könnte. Freundliche Menschen? Salzländer? Ob die ihm helfen würden? Es ist sehr weit zu laufen, das Haus ist nur ein Farbfleck in der Landschaft, und wenn er Pech hätte, würde er bis dahin Stunden brauchen. Da fällt ihm etwas ein, das ihm Kivan erzählt hat: Lag an dieser Seite des Flusses nicht auch irgendwo der Hafen der Runjifischer? An der Mündung des Flusses haben wir unsere eigenen Anlegestellen gebaut – hat er das nicht gesagt? Ja, wenn er dem Flussufer folgt, dann muss er ganz von selbst dorthin kommen. So weit wird es nicht zu laufen sein, nicht weiter als auf der anderen Seite vom Runjidorf bis zur Hafenstadt der Salzländer.
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