1611 - Jäger der Nacht
Wanda saß an einem Tisch. Die Lampe unter der Decke warf das Licht auf sie und sorgte zudem für ein Schattenbild. Sie war nicht mehr die Jüngste. Zwar winkte ihr der Tod noch nicht zu, aber lange würde es nicht mehr dauern.
Ihr gesamtes Leben hatte sie an diesem Ort verbracht. Sie war nur selten in einer größeren Stadt gewesen. So kannte sie jeden Bewohner.
Sie wusste über ihn Bescheid und kannte auch deren Ängste, die sich über Jahre hinweg gehalten hatten, weil man nichts unternommen hatte.
Jetzt war die Zeit reif, und Wanda beugte sich über das Papier und fing an zu schreiben.
Bei den ersten Worten zitterte ihre Hand noch. Zudem musste sie einige Male absetzen und über die nächsten Worte nachdenken, aber auch das verging. Je länger sie schrieb, umso flüssiger floss ihr der Text aus der Feder.
Sie schrieb nicht nur ein Blatt voll, sondern gleich zwei und noch ein drittes. Danach fiel Wanda nichts mehr ein. Sie lehnte sich zurück und holte tief Atem.
Es war vollbracht - endlich!
Wanda überlegte, ob sie sich den Text nochmals durchlesen sollte. Sie nahm davon Abstand. Nein, das war schon die richtige Botschaft.
Das nochmalige Lesen hätte sie nur verunsichert.
Sie faltete die Blätter so, dass sie in einen Umschlag passten, klebte ihn zu und griff zur bereitliegenden Briefmarke, die sie auf den Umschlag klebte.
Jetzt erst war sie zufrieden. Ein Teil der Arbeit lag hinter ihr. Allerdings würde sie das Schreiben noch wegbringen müssen. Den Empfänger hatte sie bereits auf den Umschlag geschrieben.
Jetzt las sie den Namen noch mal und sprach ihn auch flüsternd aus.
»Stephan Kowalski…«
Er war ihre Hoffnung. Auf ihn allein setzte sie. Wenn jemand helfen konnte, dann nur er, denn der Mönch würde sie verstehen. Er war anders als die meisten Mitglieder seiner Kaste.
Sie hatte ihn bei einer Wallfahrt kennengelernt. Er war so weltoffen, wenig in sich gekehrt. Er hatte für die Menschen Verständnis, hörte sich ihre Sorgen an und gab das Versprechen ab, etwas dagegen zu unternehmen, und das waren bei ihm keine Lippenbekenntnisse. Da traute sie ihm schon einiges zu.
Jetzt war noch wichtig, dass ihn die Nachricht auch erreichte, sonst war alles aus. Auch wenn er sich momentan nicht im Kloster befand, man würde ihm die Botschaft schon zustellen, da war sich die besorgte Frau sicher.
Sie erhob sich von ihrem Stuhl und strich durch ihr Haar, das die Farbe von grauer Asche hatte.
Als sie stand, warf sie einen Blick durch das Fenster nach draußen, wo die Welt noch winterkalt war. Der Frühling machte keinerlei Anstalten, sich zu zeigen.
Es war mittlerweile dunkel geworden. Wanda sah ein entferntes Licht, das ihr wie ein Hoffnungsschimmer vorkam, und von der Hoffnung lebte sie auch.
Mit einer müden Handbewegung drehte sie sich um und verließ den Raum. Das Licht ließ sie brennen. Sie wollte nicht durch die Dunkelheit ihres Hauses tappen. Den Weg zur Tür fand sie auch mit geschlossenen Augen.
Sie ging an der Küche vorbei und betrat den kleinen Flur. Dort hing ihr Mantel, den sie wegen der Kälte überstreifen musste. Es war draußen so kalt, dass sie schon mit den Zähnen klapperte, wenn sie nur daran dachte, im Kleid ins Freie zu gehen.
Den Brief steckte sie in die Manteltasche. Jetzt konnte sie sogar lächeln und war froh über das, was sie getan hatte. Sie hoffte, etwas Bestimmtes in Bewegung gebracht zu haben, auch wenn es das Letzte gewesen war, was sie in ihrem Leben tat.
Die Gefahr war da, das wusste sie. Und Stephan würde ihr glauben. Er war kein Ignorant wie viele der Bewohner aus dem Dorf. Er gehörte nicht zu denen, die mit einem Tunnelblick durchs Leben gingen.
Es war später geworden, als sie gedacht hatte. Der Ort schien ausgestorben zu sein. Sie sah keinen Menschen auf ihrem kurzen Weg bis zur Hauptstraße. Und sie spürte die Kälte, die allerdings nicht so stark von ihr empfunden wurde, weil der Wind fast eingeschlafen war. So konnte man die Temperaturen gut vertragen, und sie setzte ihren Weg zum Briefkasten mit schnellen, kleinen Schritten fort.
Er wurde nur einmal in der Woche geleert. Am morgigen Tag war es wieder so weit.
Der Briefkasten war an einer Hauswand angebracht. Dort stand er schon seit Jahrzehnten. Inzwischen war seine Farbe abgeblättert, aber das machte nichts. Er zeigte zwar schon kleine Rostlöcher, aber ansonsten war er noch intakt.
Im Haus war die Feuerwehr untergebracht. Dort standen die beiden alten Löschwagen. Und es war auch noch
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