Das Geheimnis des Roten Ritters
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Im Morgengrauen
Hagen wurde vom leisen Wiehern der Pferde wach. Er schaute durch die Ritzen des hölzernen Stalles ins Freie. Die Sonne hatte
noch längst nicht die Burgmauer erreicht. Die Nacht war gerade erst dem Tag gewichen. Wieder schnaubten und stampften die
Pferde neben ihm. Noch etwas steif von der Kälte stand er auf und streckte sich. Er klopfte sich das Stroh aus den halblangen
braunen Haaren. Was war los? Warum waren die Pferde so unruhig?
Im selben Moment fiel es ihm ein. Heute brachen die Männer auf! Gleich nach Sonnenaufgang wollten sie los, der Burgherr von
Felsenstein und seine Leute. Es schien, als spürten die Pferde, dass sie heute eher als sonst gefüttert und gestriegelt werden
sollten. Na klar, die Pferde waren aufgeregt wegen der langen Reise! Hagen klopfte dem Aschgrauen, der das Lieblingspferd
seines Vaters war, die Flanke.
»Du hast es gut«, murmelte er. »Du darfst zum großen Hoffest nach Mainz. Alle dürfen mit. Nur ich nicht. Das ist so gemein!«
Der Aschgraue rieb seine Schnauze an Hagens Schulter, als wollte er ihn trösten.
»Mach’s gut, mein Alter.« Hagen seufzte. Er würde den Grauen vermissen.
Seit Hagen sieben Jahre alt war und nicht mehr unter der Obhut der Mutter stand, sollte er eigentlich bei seinem Vater übernachten.
Doch er schlief selten im Schlafgemach der Männer. Er war schwer krank gewesen damals; einen schlimmen Husten hatte er gehabt.
Die Männer hatten ihn beschimpft, weil sie wegen seines Bellens und Keuchens nachts nicht schlafen konnten. Und sein älterer
Bruder Ludwig hatte sich geweigert, mit ihm das Bett zu teilen.
Und so war Hagen, als das hohe Fieber abgeklungen war, abends heimlich in den Pferdestall geschlichen. Die Tiere störten sich
nicht an seinem Husten. Der Aschgraue hatte sich sogar geduldig neben ihn gelegt.
In der Wärme des Stalls war es viel leichter gewesen, die eklige Lungenkrankheit loszuwerden, als in dem zugigen Burgzimmer.
Durch das Ölpapier in den Fensteröffnungen pfiff der Wind und die Mauern waren kalt. Nur im Saal, wo fast immer ein Feuer
brannte und wo es Teppiche auf dem Boden und an den Wänden gab, war es ein wenig wohnlicher.
Als Hagen über den Hof zum Bergfried, dem Wohnturm, hinüberlief, kamen ihm schon Ritter Karl und die Knechte entgegen. Und
allen voran natürlich Waldemar!
Hagen biss sich auf die Lippe. Wenn er diesen Kerl nur sah, grummelte es ihm schon vor Zorn im Bauch. Oder vor Neid.
»Guten Morgen, Vater«, rief Hagen Ritter Karl zu. An Waldemar, dem Knappen seines Vaters, sah er vorbei.
Karl legte Hagen die Hand auf die Schulter. »Hast du wieder im Stall geschlafen wie ein Bauer?«, brummte er. Aber er erwartete
keine Antwort. Es war ihm egal, wo dieser Junge die Nacht verbrachte. Dieser blasse, schmale Junge … der einzige seiner Söhne, der immer noch auf der Burg des Vaters herumlungerte, als wäre er ein Mädchen.
»Vater, sag, darf ich nicht doch mit?« Hagen sah Ritter Karl bittend an, doch der zog nur die Augenbrauen hoch.
Da drehte sich Waldemar um.
»Hagilein«, stichelte er aus einiger Entfernung. »Sollen wir deine Amme auch mitnehmen? Damit sie dich in den Schlaf wiegt,
wenn du Heimweh kriegst?«
Hagen bückte sich blitzschnell nach einem Stein und warf ihn in Waldemars Richtung. Doch der hob gerade noch rechtzeitig den
Schild, den er für Ritter Karl trug. Der Stein schepperte gegen das mit Leder bezogene Holz.
Hagens Gesicht war rot geworden. Oh, wie er diesen Waldemar hasste! Und zwar nicht nur, weil Ritter Karls Knappe alles das
durfte, was ihm selbst verboten war. Nein, dieser grässliche Kerl war einfach ein hinterhältiger, aufgeblasener Hanswurst.
Und sonst nichts. Ritter Karl hatte ihn vor sieben Jahren als Pagen bei sich aufgenommen. Seitdem hatte er gelernt, seinen
Herrn bei Tisch zu bedienen, sich anständig zu benehmen, aber auch Singen, Schwimmen, Reiten und sogar schon ein wenig den
Umgang mit Schild, Schwert und Lanze.
Inzwischen war Waldemar vierzehn, also noch längst kein Ritter. Erst vor einem Vierteljahr war er vom Pagen zum Knappen aufgestiegen.
Seitdem übte er fast täglich den Kampf mit Lanze, Schwert und Dolch, dazu noch das Jagen mit dem Falken und feineres höfisches
Benehmen.
Hagen lachte grimmig. Höfisches Benehmen! Sobald Ritter Karl ihn nicht sah, führte Waldemar sich auf, als wäre er der Kaiser
persönlich. Er stolzierteherum und behandelte Hagen, der nur zwei Jahre jünger war,
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