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Die Legende unserer Väter - Roman

Titel: Die Legende unserer Väter - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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    Neun Personen und drei Fahnen waren beim Begräbnis meines Vaters. Es fand am 17. November 1983 statt, da war ich siebenundzwanzig Jahre alt. Lupuline war auch da, ich aber sah zu den Fahnen hin. Schlappe Standarten, müde, fast grau. Die erste trug schwer an ihren Medaillen wie ein alter Soldat. Die zweite war eine Trikolore ohne Troddeln und Galonen mit der Aufschrift:
Corps franc – Vengeance
. Auf der dritten sah man einen schwarzen Stern und einen lauernden roten Panther.
    Mamas Hand berührte meine. Mein Bruder Lucas, zehn Jahre älter als ich und blind, stand mit verschränkten Armen am offenen Grab. Ich suchte den Himmel nach Regen ab. Mein Vater hatte Gewitter geliebt. Er sagte immer »Wetter« statt »Regen«. Die Abwesenheit von Wolken stimmte ihn traurig. Sonnenschein machte ihn unruhig. An schönen Tagen erging es ihm wie mir in diesem Moment an seinem Grab: Er blickte zum Himmel und fragte sich, wo das Wetter blieb.
    Als mein Vater beerdigt wurde, war er schon acht Jahre so gut wie tot. Lucas’ Unfall hatte ihn aus der Bahn geworfen, geschwächt und schließlich umgebracht. Sein Krebs komme vom Kummer, sagte er. Er ging ins Spital. Kam wieder heraus.Wollte die weißen Kittel nicht mehr sehen, den Geruch des Schweigens nicht mehr in der Nase haben, nichts mehr im Mund, im Hintern, in den Venen. Er war nicht krank, nur erschöpft. Von uns, von seiner Vergangenheit, von seinem Leben. Also kam er im April 1975 nach Hause und legte sich hin.
    Er starb an seinem sechsundsechzigsten Geburtstag. Mama hatte das Geschenk im Wohnzimmerschrank versteckt. Eine Meerschaumpfeife mit einem Zuavenkopf, in blaues Papier eingeschlagen. Niemand hat je daran gerührt. Heute liegt sie samt Verpackung und Geschenkbändchen zwischen zwei Büchern in meinem Regal.

    Zuerst wollte mein Vater seinen Leichnam der Wissenschaft vermachen. Den ganzen Körper, nichts sollte übrig bleiben. Meine Mutter protestierte schwach. Weinte heimlich. Er wusste es. Er ahnte ihre leisesten Regungen. Dann sprach er von Einäscherung, die Asche sollte auf einem Gedächtnisrasen in der Nähe des Friedhofs verstreut werden. Das machte Mama genauso traurig. Eines Tages gab sie es zu. Dass sie sich ein Stückchen Erde wünschte, für ihn, also für sich. Einen Ort der Erinnerung, zu dem man zurückkehren könnte, weggehen, schlafen und wieder hingehen. Da nahm mein Vater meine Mutter in die Arme. Das machte er sonst nie. Ich kam gerade aus der Küche, war noch ein Kind damals. Fand meine Eltern in einer Ecke des Flurs. »Du willst doch auch, dass wir vereint sind?«, fragte mein Vater. Vereint, wiedervereint. Auf ewig. Also doch ein Leichenbegängnis. »Zug der Heuchler«, hatte Papa das immer genannt. Für Mama und uns würde er seinen Platz einnehmen.

    Mein Vater hieß Pierre, aber die Jungs hatten »Brumaire« in seinen Grabstein gravieren lassen. Der stand verkehrt neben der Grube, dunkel leuchtend vor Neuheit. Da war kein Priester, da würde kein Kreuz sein. Nur ein grauer Granitblock, roh und rau, wie dem Felsen entrissen.
    Wir waren nicht viele. Meine Mutter Haut an Haut mit ihren Kindern. Onkel Veurnes. Ein Cousin, eine allzu traurige Freundin und die Jungs von der Résistance. Mein Vater nannte sie immer so, »die Jungs«. Am Loch standen nur drei.
    »Lille ist zu weit weg«, sagte meine Mutter entschuldigend. »Außerdem ist eine Beerdigung unter der Woche unpraktisch.«
    Aber ich wusste, dass die Entfernung nicht das Problem war. Auch der Wochentag nicht. Es waren nur drei, weil es nur noch drei waren.
    Als der Sarg an den Stricken hinabsank, entfuhr meiner Mutter ein animalischer Laut, ein Hauch von Klage, wie ausströmende Luft. Ich nahm sie am Arm. Lucas schluchzte, ohne etwas zu sehen. Die anderen senkten den Kopf. Die Freundin weinte laut. Die Jungs salutierten vor dem Sarg mit hocherhobenem Kopf und der Hand an der Schläfe. Ich sah ihre zitternden Hände, ihr bebendes Kinn und die alten Fahnen, die sich zum Grab hin neigten.
    »Wir haben keine außergewöhnlichen Ehrungen erwartet, keinen besonderen Lohn, keine Vorzugsbehandlung. Wir waren nicht darauf vorbereitet, die Rolle von Nationalhelden zu übernehmen …«
    Das sagte einer der Jungs am offenen Grab. Der Einzige, den mein Vater »Genosse« nannte. Sie hatten gemeinsam gekämpft, erst in einem Abschnitt des Loiret, dann in derRegion Paris. Wurden gemeinsam verhaftet und deportiert. Und als sie aus dem Lager kamen, waren sie müde geworden. »Brumaire« und »Tristan«.

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