Die Stadt der verkauften Traeume
KAPITEL 1
Die Treppe
Tot zu sein war kälter, als Mark erwartet hatte.
Wenn seine Mutter ihm all die Geschichten vom Nachleben erzählt hatte, hatte sie ihn fest in ihre wollenen Röcke gezogen und ihm das Bild einer anderen Stadt gemalt, einer Stadt, in der immer Sommer war. Einer Welt, in der der Fluss hell und sauber funkelte, eines Landes, in dem alle Schulden bezahlt waren. Mark hatte jedem einzelnen ihrer Worte geglaubt, bis er in seiner steinernen Zelle erwacht war, zitternd und in ein Laken gehüllt.
Seine Mutter war die Erste gewesen, die gehen musste. Wenigstens hatte sie so noch vor ihm erfahren, wie sehr sie sich getäuscht hatte. Sie war grau wie Stein geworden. Dann war der Schnitter gekommen. Er hatte ausgesehen wie ein Mann in einem schwarzen Umhang, bis Mark ihm ins Gesicht geblickt hatte: glatt und weiß, ohne Mund und Nase, aber mit zwei riesigen schwarzen Augen. Mark hatte sich in einer Ecke zusammengekauert, als er an ihm vorüberging. Die anderen Kinder hatten gesagt: Wenn man ihn berührt, zerfallt man zu Staub.
Er kam drei Mal. Das erste Mal holte er seine Mutter, dann seine Brüder und Schwestern. Und jedes Mal hörte Mark seinen Vater etwas murmeln und dann die tiefe, grummelnde Antwort des Schnitters, gerade so leise, dass er nichts verstehen konnte. Nur ein Mal war die Stimme seines Vaters so laut geworden, dass er etwas hörte, da hatte er etwas wegen des Wassers gerufen, dass es kein anderes Wasser zum Trinken gäbe. Da war der Schnitter mit langsameren Schritten gegangen, als wüsste er, dass er wiederkommen würde.
Danach kamen die Müdigkeit und die Gleichgültigkeit. Mark sah zu, wie seine eigenen Handrücken grau wurden. Er wusste, dass es nicht mehr lange dauern konnte. Dann gab es nur noch Gefühle. Das Gefühl eines brennenden Mundes, das Gefühl, gestoßen zu werden, vorbeigetragen an wirbelnden Formen und lauten Geräuschen. Und schließlich eine letzte, glückselige Losgelöstheit, die ihn restlos ausfüllte.
Als er erwachte, fror er. Es war klar, dass er tot war. Alles kam ihm anders vor. Das Grau war von seiner Haut gewichen, der Lärm aus der Luft. Im Leben hatte sich der Gestank des Flusses mit dem scharfen Geruch nach Fisch vermengt und sich in seinen Haaren und seiner Kleidung festgesetzt. Das Nachleben roch nach Staub mit einem Hauch von Essig. Er schloss eine Weile die Augen und zog die Laken fester um sich, schütze sich gegen den kalten Zug, der ihm um die Füße strich. Doch es half nichts. Er sah sich um. Der Raum, in dem er sich befand, war nicht groß. Wände und Boden waren aus grauem Stein. Er erkannte einen Kamin, in dem es noch ein bisschen unter der alten Asche glomm. Und daneben – eine Tür.
Er wartete, obwohl er nicht genau wusste, worauf. Auf einen Engel? War er dafür überhaupt gut genug gewesen? Er hatte seinem Vater immer beim Ausnehmen der Fische geholfen. Und für seine Mutter und seine Brüder Wasser geholt, wenn sie welches gebraucht hatten. Ob das reichte? Steif schob er die Füße über die Bettkante, stand auf und schlurfte hinüber zur Tür. Sie war alt. Das Holz hatte sich um die Scharniere herum verzogen. Sie sah nicht aus wie eine Engelstür. Mit zitternder Hand drückte Mark sie auf.
Vor ihm führte eine sehr alte, steinerne Wendeltreppe nach oben.
Etwas rührte sich in seinen Gedanken. Etwas, was seine Mutter ihm erzählt hatte, die Legende von einem Mann, der nicht gut genug gewesen war, um in den Himmel zu kommen, und der deshalb eigenmächtig hinaufgestiegen war. In der Ferne, weiter treppauf, glaubte er einen Lichtschimmer zu erkennen.
Er hob einen nackten Fuß und setzte ihn auf die erste Stufe.
Die Treppe war uneben, der Stein an einigen Stellen weggebröckelt. Er kam an Türen vorbei, an dicken Türen aus dunklem Holz. Kein Licht drang unter ihnen hervor. Was, wenn das der Ort war, an den die Verdammten kamen? Diejenigen, die ihre Arbeit unbeendet und ihre Schulden unbeglichen hinterlassen hatten? Mark hatte gesehen, wie sie von den Eintreibern, den Männern in den blauen Uniformen, schreiend aus ihren Häusern gezerrt wurden. Man sah sie nie wieder.
Er ging weiter, höher und immer höher die Treppe hinauf. Sie schien steiler zu werden. Seine Beine waren schwächer als zu Lebzeiten, und er musste sich an die Wand lehnen. Seine Finger spürten, dass da etwas in den Stein geritzt war. Es war zu dunkel, um Genaueres zu erkennen, deshalb versuchte er, es mit den Fingerspitzen zu ertasten. Sechs Formen in einem
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