Feuerflügel: Roman (German Edition)
– 1 –
Greif
Tagsüber hatte es geregnet und nun schimmerte unter einem Dreiviertelmond der Wald silbern im Nebel. Alles roch besser nach dem Regen, dachte Greif, als er durch die feuchte Sommerluft segelte. Vom Boden des Waldes stiegen der lehmige Duft der Erde und der kräftige Gestank von verrottendem Laub und den Ausscheidungen der Tiere auf. Harzgeruch wehte von den Kiefern und Fichten herauf, als er über die obersten Äste strich.
Plötzlich kräuselte sich ein neuer Geruch durch alle anderen, einer der nicht in den Wald gehörte. Greif spürte, wie sich sein Fell sträubte. Er schnüffelte mit weit geöffneten Nasenlöchern, aber der Geruch war schon wieder verschwunden, verdunstet. Vielleicht waren es ja nur die flüchtigen Spuren eines weit entfernten Stinktiers, so scharf roch es, aber ... irgendwie heißer und gefährlicher. Er legte den Geruch in seiner Erinnerung ab, damit er ihn bei Sonnenaufgang seiner Mutter im Baumhort beschreiben konnte. Dann neigte er die Flügel und schlug die Richtung auf seinen bevorzugten Jagdgrund ein.
Der riesige Zuckerahorn stand auf einer kleinen Bodenerhebung im Tal und seine Krone war breiter und höher als die jedes anderen Baums in seiner Nähe. Nach dem Baumhort war dies im ganzen Wald Greifs Lieblingsplatz. Er mochte, wie das Mondlicht das Laub in durchsichtigem Silber badete; wenn ein starker Wind wehte, sahen die Blätter wie tausend Fledermäuse aus, die alle gleichzeitig aufflogen, und sie hörten sich auch so an.
Greif kreiste niedrig über dem Baum und sandte Laute aus. Die zurückgeworfenen Echos malten den Wipfel des Baums in seinem Kopf mit mehr Einzelheiten, als seine Augen jemals wahrnehmen könnten. Er sah jeden Ast und Zweig, jede Knospe, sogar die Adern der Blätter.
Und natürlich die Raupen.
Sie waren überall. Wie viele andere Bäume im Wald hatten auch den Ahorn Raupen befallen, Raupen des Großen Schwammspinners, und sie hatten ihm bereits die Hälfte seiner Blätter geraubt. Während der vergangenen Woche war Greif jede Nacht hierher gekommen und hatte gefressen, aber in der darauf folgenden Nacht waren es anscheinend immer wieder genauso viele Raupen wie vorher. Es mussten hunderte sein! Sein Magen machte ein hungriges glucksendes Geräusch.
Er stellte die Flügel an und ließ sich in einen steilen Sturzflug kippen. Dabei streute er Töne vor sich aus. Die erste Raupe fegte er direkt mit dem Schwanz von einem Zweig, schleuderte sie in seinen Flügel und von dort unmittelbar in das offene Maul. Er duckte sich unter einen Ast, wendete und schnappte sich zwei weitere, die an Fäden herabhingen. Zusammengerollt lag auf einem Blatt noch eine Raupe. Greif schoss nahe heran und mit einem Hieb der Flügelspitze schleuderte er sie vom Blatt und verschlang sie in der Luft. Sie fühlten sich ein bisschen pelzig an, wenn sie die Kehle hinunterrutschten, und sie hatten einen leicht sauren Nachgeschmack, aber daran gewöhnte man sich.
„Wird dir das nicht langweilig?“
Greif blickte hoch und sah Luna, eins von den Jungtieren der Silberflügel. Sie glitt an seine Seite herab.
„Sind nicht so schlecht“, antwortete er.
Genau genommen hatte er das Gefühl, sich nützlich zu machen. Die Raupen waren gierige Fresser, und seine Mutter sagte, wenn man sie nicht unter Kontrolle brachte, würden sie den halben Wald verschlingen. Diese Vorstellung hatte Greif Angst eingejagt. Er wollte nicht erleben, dass sein Wald kahl gefressen wurde, ganz besonders nicht sein geliebter Zuckerahorn. Eine schreckliche Vision hatte sich vor seinem Auge entfaltet. Ohne Bäume würde das Erdreich weggespült, und ohne Erde würde nichts wachsen, und man könnte sich nirgendwo niederlassen, und es gäbe nichts zu essen, und alle Silberflügel würden wahrscheinlich verhungern oder müssten wegziehen und sich ein neues Zuhause suchen!
Also fraß Greif Raupen.
Und jedes Mal, wenn er eine verschlang, trug er dazu bei, die totale Katastrophe zu verhindern. So jedenfalls sah er das. Aber das erzählte er Luna nicht. Sie glaubte sowieso schon, er sei verrückt.
Ein schöner fetter Bärenspinner flatterte vorbei, nicht weiter als ein paar Flügelschläge von seiner Nase entfernt. Greif ließ ihn fliegen.
„Willst du den nicht?“, fragte Luna überrascht.
„Er gehört dir“, sagte er, und schon war sie weg und stürzte sich zwischen die Bäume hinter der Beute her.
Greif schaute zu und bewunderte, wie gekonnt sie kurvend und kippend durch das enge Geflecht der Äste
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