Jenseits aller Vernunft
1
Warum muss man beim Sterben so viel leiden? fragte sich die schwangere junge Frau.
Sie hielt sich den aufgeblähten Bauch, als der Schmerz wieder ihren Unterleib sprengen wollte und hinab zog bis in die Schenkel. Als es vorüber war, atmete sie schwer wie ein verletztes Tier bei dem Versuch, Kraft für die nächste Attacke zu gewinnen, die sie sicher in ein paar Minuten schütteln würde. Zweifellos muss te der Schmerz wiederkommen, denn sie glaubte nicht, dass es ihr gestattet sein würde zu sterben, bevor das Kind geboren war.
Sie schauderte krampfhaft. Der Regen war kalt, jeder Tropfen eine winzige Nadel, die ihr in die Haut stach. Er hatte ihr schäbiges Kleid und die wenigen Stücke Unterwäsche durchweicht, die sie mit ein paar ungeschickten Knoten befestigt hatte. Die Lumpen hingen an ihr wie ein feuchtes Leichentuch, ein Gewicht, das sie zu Boden zog und sie genauso in den Schlamm zwang wie das gnadenlose Reißen in ihr. Durchgefroren bis auf die Knochen, lag trotzdem nach den endlosen Stunden quälender Wehen eine klamme Schweißschicht auf ihrer Haut.
Wann hatte es angefangen? Gestern abend kurz nach Sonnenuntergang. Im Laufe der Nacht war das Ziehen in ihrem Kreuz immer schlimmer geworden und hatte sich schließlich ausgedehnt nach vorn in ihren Bauch, den jetzt immer wieder der Schmerz mit bösen Fäusten packte. Angesichts des wolkigen Himmels fiel es ihr schwer zu sagen, um welche Tageszeit es sich handelte, doch sie nahm an, dass es schon Vormittag war.
Gebannt schaute sie auf das Blättermuster der Zweige über sich vor dem grauen Wolkenmeer, als die nächste Wehe ihr In neres durchschni tt. Der Himmel hatte seine Schleusen geöffnet; er kümmerte sich nicht um die kaum zwanzigjährige Frau, die ganz allein in der Wildnis von Tennessee ein Wesen gebar, das sie sich nicht als Baby und noch viel weniger als Mensch vorstellen wollte.
Sie drehte den Kopf zur Seite auf ihrem Lager aus nassen verrotteten Blättern, die noch vom letzten Herbst dort lagen, und ihre Tränen vermischten sich mit dem Regen. Das Kind war unter Scham und Demütigungen gezeugt worden und verdiente zweifellos keine besseren Umstände als diese für seine Geburt.
»Lieber Gott, lass mich jetzt sterben«, betete sie, als sie spürte, wie die nächste quälende Wehe begann. Sie rollte durch ihr Inneres wie ein Sommergewitter, wurde immer heftiger und krachte gegen ihre Bauchwände wie Donnerschläge in den Bergen.
Am vergangenen Abend war sie mit zusammengebissenen Zähnen einfach weitergewandert. Als das Fruchtwasser im Schwall zwischen ihren Schenkeln hervorquoll, muss te sie sich gezwungenermaßen hinlegen. Sie hatte nicht anhalten wollen. Jeder Tag bedeutete ein paar Meilen Abstand mehr zwischen ihr und jenem Toten, der inzwischen sicher schon entdeckt worden war. Vage hoffte sie, er würde verwesen und niemals gefunden, aber eigentlich erwartete sie kaum so viel Glück.
Diese schreckliche Pein, die sie jetzt erleiden muss te, war bestimmt eine Strafe des Himmels dafür, dass sie mit Erleichterung ein Geschöpf Gottes hatte zugrunde gehen sehen. Außerdem dafür, dass sie das Lebewesen nicht wollte, das neun Monate lang in ihrem Schloss gewachsen war. Denn trotz aller Schuldgefühle betete sie, das Leben nie sehen zu müssen, das sich gerade so qualvoll den Weg aus ihrem Körper bahnte. Hoffentlich durfte sie vorher sterben.
Als der Schmerz sie das nächste Mal erfasste , war es noch schlimmer als bisher und zwang sie, sich halb aufzusetzen. Gestern abend, als ihr Schlüpfer durch den Strom von Flüssigkeit durchnässt worden war, hatte sie ihn ausgezogen und beiseitegeworfen. Jetzt hob sie ihn wieder auf und wischte sich damit das von Regen und Schweiß tropfende Gesicht ab. Vor Angst und Leid zitterte sie heftig, dieses letzte Aufbäumen ihres Körpers zerriss ihr empfindliches Gewebe. Sie hob den zerfetzten Saum ihres Kleides und die Reste ihres Unterrocks über ihre aufgestellten Knie und legte eine Hand vorsichtig zwischen ihre Beine, wo sie das Reißen gespürt hatte.
»Ohhh...«, wimmerte sie stoßweise. Sie war geöffnet, weit geöffnet. Ihre Fingerspitzen hatten den Kopf des Babys berührt. Als sie die Hand wegnahm, war sie voller Blut und Schleim. Voller Schreck öffnete sie den Mund - ihr entrang sich ein durchdringender Aufschrei, als ihr Körper sich zusammenzog, um das Wesen auszustoßen, das nun zum Fremdkörper geworden war, nachdem es neun Monate so geschützt in ihrem Innern verbracht hatte.
Sie
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