Judaswiege: Thriller
Chance, Jessica. Wirklich.«
Er sagte es, als sei es das Normalste von der Welt, eine Chance zu erhalten.
»Aber Sie haben sie mir doch erst genommen, Mister. Ohne Sie bräuchte ich gar keine Chance. Ich wollte keine, schon vergessen?«
Die Stimme lachte. Ein emotionsloses Lachen, seltsam entrückt. Das Lachen eines Psychopathen.
Jessica dachte an Adrian und ihre Mutter, die sie immer vor Männern gewarnt hatte. Du pauschalisierst, Mom, hatte sie ihr immer geantwortet.
»Jetzt noch das Handy, und dann läufst du los. Ich gebe dir eine halbe Stunde Vorsprung, ich hatte dir schließlich eine realistische Chance versprochen.«
Das war es also? Was sollte das bedeuten? Ein krankes Spiel? Vorsprung klang nach Fangen spielen in den Vorgärten der Nachbarn. Unschuldig und ohne Konsequenzen. Was hatte dieser Mann im Sinn, der sich die Mühe gemacht hatte, eine Bombe in ihrem Auto zu platzieren? Oder war es doch möglich, dass es sich um eine Attrappe handelte? Sie sah ihre Optionen schwinden. Er konnte sie beobachten, jeden ihrer Schritte mit der Zündung der Bombe beantworten. Bis auf einen vielleicht. Vorsichtig, damit er keinen Verdacht schöpfte, tastete sie durch den dünnen Stoff ihres Sommerkleids. Ja, ihr Zweithandy war noch da. Das war ihre Chance, die Oberhand zu gewinnen. Sie konnte ihm ruhig das Handy auf dem Wagendach überlassen. Und wenn das Ganze doch nur ein Scherz war, hatte sie auch nichts verloren.
Dennoch wollte das Zittern in ihrer Hand nicht nachlassen, als sie das Funktelefon auf das Wagendach legte. Sie hatte gerade die Hand zurückgezogen und fragte sich, was der Mann jetzt vorhatte, da er nicht mehr mit ihr kommunizieren konnte, als sie ein stetes Piepsen vernahm. Panik erfasste sie. Sie schnallte den Sitzgurt los und starrte zu der Bombe. 00:27 stand jetzt auf einem rot leuchtenden LED-Display. 00:26. Jede Sekunde zählte die Uhr nach unten. Ihr blieb nicht einmal eine halbe Minute, um weit genug von dem Auto wegzukommen. Fuck. Auf der Rückbank hatte doch eine Taschenlampe gelegen, oder nicht? Damit hatte sie gestern einen verlorenen Ohrring gesucht. Eine schwarze Maglite, schwer und mit neuen Batterien. Sie brauchte die Lampe. Fieberhaft kramte sie in der Unordnung und verfluchte ihre Nachlässigkeit. Sie starrte noch einmal auf die Uhr. Fünfzehn Sekunden. Vierzehn. Da endlich ertastete sie mit ihren Fingerspitzen das kühle Metall. Sie streckte sich und riss die Lampe an sich, öffnete die Wagentür, stürzte hinaus, stolperte über den matschigen Grund. Wieso hatte sie nicht ihre Turnschuhe angezogen, anstatt einfach barfuß ins Auto zu steigen? Weil es heute Nachmittag gar keinen Grund gab, festes Schuhwerk anzuziehen. Heute Nachmittag kam ihr vor wie vor ewig langer Zeit.
Noch zwölf Sekunden. Sie schlitterte über den Waldboden, versuchte verzweifelt, Halt zu finden. Sie rutschte einen Hügel hinunter, verlor immer wieder den Halt auf dem glitschigen Untergrund. Aber die Böschung würde die Wucht der Bombe mindern, oder nicht? Noch fünf Sekunden. Sie duckte sich hinter eine besonders dichte Ansammlung von Stauden, als eine ohrenbetäubende Explosion ihr Trommelfell fast zum Platzen brachte. Ein riesiger Feuerball erhellte die Nacht, sie blickte ungläubig in Richtung der Stelle, an der vorher ihr Geländewagen gestanden hatte. Da dürfte nicht viel übrig geblieben sein.
Also keine Attrappe, dachte Jessica. Ihr Gefühl hatte sie nicht getäuscht. Es war tatsächlich das Werk eines Psychopathen und kein schlechter Scherz. Ihr wurde klar, dass es hier für sie um Leben und Tod ging. Eine halbe Stunde Vorsprung hatte ihr der Mann versprochen, aber sie wollte auf Nummer sicher gehen, sich wenigstens ein Stück weit von ihm entfernen, bevor sie mit ihrem Handy Hilfe rief. Wer weiß, ob sich der Verrückte an seine Ansage halten würde. So schnell sie konnte, kletterte sie weiter den Hügel hinunter. Überall lauerten tückische Steine, sie verlor den Halt und stürzte in den Schlamm. Verdammte Scheiße. Hektisch warf sie einen Blick zurück. Sie hatte es kaum zwanzig Meter weit geschafft. Noch ein Stück, Jessica.
Sie rappelte sich auf und stolperte weiter. Vor sich konnte sie einen kleinen Fluss ausmachen. Es hilft nichts, rein da. Das Wasser war eiskalt, was ihr auf Hawaii seltsam vorkam, aber zum Glück nicht sehr tief. Sie hielt das Handy in der Hand, damit es trocken blieb, und watete zum anderen Ufer. Der Bambuswald sah hier noch dichter aus, und sie konnte nur Umrisse
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