Leander und der tiefe Frieden (German Edition)
Prolog
Nacht vom 17. auf den 18. Dezember
Der Sturm hatte sich über Tage hinweg angekündigt, bevor er
endlich losbrach und für Erlösung sorgte. Zwar hatte es im Herbst schon
häufiger kräftigen Wind bis zur Sturmstärke gegeben, wenn kalte und warme
Luftmassen aufeinandergetroffen waren, aber die sonst üblichen Herbststürme
waren in diesem Jahr ausgeblieben. Insgesamt war das Jahr einfach zu warm
gewesen. Jetzt allerdings stand ein Wetterwechsel bevor. Kalte Luft aus
Nord-Ost traf auf die warmen Luftmassen über der Nordsee und versprach, nach
einem heftigen Sturm das Regiment zu übernehmen, die feuchte Regenluft endlich
zu vertreiben und dem Winter seinen angestammten Platz zu verschaffen.
Der Seewind hatte das Wasser gegen Land gedrückt, so dass es
selbst bei Ebbe nur leicht zurückgegangen war, um dann bei jeder Flut ein Stück
weiter aufzulaufen als bei der vorangegangenen. Die Strandkorbvermieter hatten
auf Hochtouren gearbeitet, immerhin waren wegen der in diesem Jahr ungewöhnlich
langen Herbstsaison selbst jetzt im Dezember immer noch Hunderte von Körben in
Wyk, Nieblum und Utersum in die Winterquartiere hinter den Dünen zu
transportieren gewesen – gegen die Zeit und gegen den zum Teil erbosten
Widerstand verständnisloser Nachsaison-Urlauber, die sich eigentlich freuten,
dass das Wasser nicht ständig so weit weg war, und einen windgeschützten Platz
brauchten, um das auch genießen zu können.
Am 17. Dezember war es dann so weit: In Wyk erreichte die Flut
die Strandpromenade, das Wasser lag spiegelglatt und bleischwer, der Wind
erstarb von einer Sekunde auf die andere und hinterließ eine Stille, die
Insulaner den Tod erahnen ließ und selbst den Urlaubern einen Schauer über den
Rücken jagte. Die Luft drückte schwer auf die Dächer und am südwestlichen
Horizont breitete sich unter einer stählernen Sonne ein silbergrauer Streifen
aus, der allmählich an Tiefe gewann und sich drohend näherte. Am frühen
Nachmittag lag er über Langeneß, dicht gefolgt von einer pechschwarzen Wand,
die in ihrer Geschlossenheit nicht erahnen ließ, dass sie eigentlich nur aus
Wolken bestand, und sich langsam auf Föhr zubewegte.
Ahnungslose Touristen saßen in den Promenaden-Cafés und
beobachteten interessiert das Wettergeschehen, während städtische Arbeiter
Strandkörbe schleppten, die Mauerdurchbrüche vor den Hotel-und
Appartementkomplexen mit Stahlplatten verschlossen und Sandsäcke vor jede Ritze
stapelten. Sogar das Tor im inneren Deich am Rathausplatz wurde geschlossen und
Pumpen wurden in Stellung gebracht, um das Wasser dort zu fesseln, wo es
hingehörte: jenseits des Deiches im Hafengebiet, wo an einem hölzernen
Sturmflutpfahl Eisenringe die höchsten Wasserstände der vergangenen
Jahrhunderte anzeigten.
Gegen 15.30 Uhr musste auch dem Letzten klar sein, dass diese
Atmosphäre bedrohlich war, denn aus dem undurchdringlichen Schwarz des Himmels,
das nun die Sonne endgültig verschluckt hatte, waren selbst die sonst
allgegenwärtigen Lachmöwen verschwunden. Kein Laut war mehr zu hören, kein
Vogelschrei und auch kein Wellenplätschern, und als um 16 Uhr der Fährbetrieb
eingestellt, die Sturmbeflaggung im Hafen gehisst, das Café Valentino an
der Promenade geschlossen wurde und die Nordfriesland , die letzte große
Autofähre der Wyker Dampfschiffreederei, die an diesem Tag noch von Dagebüll
aus herübergekommen war, den Hafen verließ und draußen Stellung bezog, da
brachen auch die letzten Urlauber auf und trollten sich ungemütlich berührt in
ihre sicheren Quartiere. Krabbenkutter strebten aus allen Himmelsrichtungen dem
Hafen zu und steuerten direkt ins innere Hafenbecken, in der Hoffnung, dort den
Schutz zu finden, den sie angesichts der zerstörerischen Kraft der Naturgewalten
bald nötig haben würden.
Nur ein Kutter steuerte in entgegengesetzter Richtung aus dem
Hafen hinaus, an den heftig winkenden und rufenden Besatzungen der
hereinstrebenden Krabbenkutter und an der dümpelnden Nordfriesland vorbei und direkt auf das Tief zwischen Langeneß und Amrum zu. Der Mann am
Steuer reagierte nicht auf die Rufe der Kollegen, sein Blick war starr
geradeaus gerichtet, der Südwester tief über die Augen herabgezogen.
»De Düwel ook! Wat hat de denn für?«, fragte der Hafenmeister
seine beiden Mitarbeiter, die gerade dabei waren, eine Gangway in sichere
Distanz zur Kaimauer zu ziehen.
Einer der beiden legte die Hand über die Augen, als müsse er
gegen die Sonne schauen, oder als
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