Macabros 079: Die Nachtseelen von Zoor
Er erwachte ohne sichtlichen Grund und war von einer Sekunde zur
anderen voll da. War nicht ein Geräusch gewesen, das ihn geweckt
hatte? Gaston Belmonds Sinne waren geschärft. Wenn man
wochenlang durch den Dschungel wandert, werden die Sinne sensibler
und reagieren auf jedes Geräusch. Selbst im Schlaf. Ein dumpfes,
fernes Grollen hatte ihn munter gemacht. Das gehörte nicht zu
den Geräuschen der Nacht, die für den Urwald typisch waren.
Der fünfundvierzigjährige Franzose richtete sich auf und
warf einen Blick auf die Frau an seiner Seite. Luciles Augenlider
zitterten. Auch sie reagierte, wenn auch verspätet. »Was
ist los?« fragte sie schlaftrunken, rieb sich die Augen und fuhr
sich durch das lange, honigblonde Haar. »Keine Ahnung! Es hat
sich angehört, als wäre ein Baum umgestürzt«,
erwiderte der braungebrannte Mann leise. Er beugte sich nach vorne
und drückte den Zelteingang auseinander. Vor ihm lag der freie
Lagerplatz. In der Mitte war noch die Feuerstelle zu sehen, wo sie am
frühen Abend zusammen gegessen hatten. Links daneben stand ein
zweites, genau ihm gegenüber ein drittes Zelt. In dem einen war
sein Freund und Begleiter, Albart Nevieux, untergebracht, ein Mann,
dessen Her- und Landschaftsfotografien weit über die Grenzen
seiner Heimatstadt Paris bekannt und bekannt und beliebt waren.
In dem anderen lagen die fünf Träger der Expedition, die
Gaston Belmond in eigener Initiative zusammengestellt hatte und
durchführte.
Alles ringsum war wieder still – bis auf die typischen
Geräusche der Dschungelnacht: Piepsen, Rascheln, Rauschen in den
großen Baumwipfeln, das Knacken von Asten, wenn in
unmittelbarer Nähe des Lagers ein Tier sich durchs Unterholz
bewegte. Manchmal kreischte ein Vogel, daß es sich
anhörte, als befände er sich in Todesnot.
Über die kleine Lichtung, auf der sie rasteten, spannte sich
der dunkle, klare Nachthimmel, an dem tausend glitzernde Sterne
standen.
Das kalte ferne Licht lag schimmernd auf den fleischigen
Blättern der Büsche und Bäume und vertrieb die
Finsternis vom Lagerplatz.
Gaston Belmond erkannte im Zelt gegenüber plötzlich eine
heftige Bewegung.
Die Wände bäumten sich nach außen, als würde
jemand von innen dagegen drücken. Der Eingang wurde aufgerissen,
und geduckt liefen zwei, drei dunkelhäutige Gestalten ins
Freie.
Die Träger!
Was war nur los? Sollte wegen eines bisher nicht identifizierbaren
Geräuschs im Zelt dort drüben Angst und Furcht eingezogen
sein?
Belmond hatte bei der Auswahl der Eingeborenen gesonderten Wert
darauf gelegt, daß sie fortschrittlich eingestellt waren.
Heutzutage war es schließlich nicht mehr so wie vor hundert
oder hundertfünfzig Jahren, als die ersten Europäer im
schwarzen Kontinent ihre Forschungsreisen durchführten.
Die meisten Stämme in diesem Bezirk, wo Gaston Belmond mit
seinen Begleitern hingekommen war, hatten auf irgendeine Weise schon
Berührung mit Weißen gehabt.
»Was ist denn los?« rief er über den
nächtlichen Platz. »Warum lauft ihr denn davon?«
Er bediente sich der Eingeborenensprache. Außer seiner
Leidenschaft für abenteuerliche Reisen gab es kaum eine’
Sprache der Welt, in der Belmond nicht mindestens einen Satz
hätte sagen können.
Die weißen Augäpfel der Neger leuchteten in der
Dunkelheit. Die Männer machten keine Anstalten stehen zu
bleiben. Wie von Furien gehetzt, stürzten sie nach allen Seiten,
brachen in die Büsche und verschwanden im Dschungel.
Das war Belmond zuviel.
Mit einem Fluch auf den Lippen warf er das Moskitonetz zurück
und kroch nach draußen.
Auch die beiden anderen Träger, die sich noch im Zelt
befanden, tauchten am Eingang ihrer Unterkunft auf und starrten
entsetzt in die Richtung, aus der Belmond kam. Sie liefen dann davon,
ohne auf seinen Zuruf zu reagieren.
»Stehen geblieben! Bleibt hier! Verdammtes Pack«,
brüllte der Franzose aufgebracht durch die Nacht. »Ich habe
euch bezahlt… Ich hab’ ein Recht darauf, daß ihr bis
zum Ende unserer Reise dabei seid…«
Die Schwarzen dachten nicht daran zu gehorchen.
Auch Albert Nevieux, der Fotograf, kroch aus seinem Zelt.
»Verdammt noch mal!« fluchte er. »Was ist denn hier
los? Du machst einen Lärm, als ob dir sämtliche Träger
davon gelaufen wären.«
»Genau! Damit triffst du den Nagel auf den Kopf«,
entgegnete Belmond. »Die Kerle sind verrückt. Irgendetwas
scheint ihnen über die Leber gelaufen zu sein,
wenn…«
Er unterbrach sich, als er sah, wie die Augen seines
Gegenüber
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