Neunerlei - eine Weihnachtserzählung
Es war in den ersten Novembertagen, als es mich in diesen Teil des Friedhofs verschlug und ich das Grab in der Ecke entdeckte. Es war nicht besonders ungepflegt oder verwahrlost, strahlte keine besondere Traurigkeit oder Wehmut aus, wie alte Gräber das manchmal tun. Es bestand aus nur einer Platte aus grauem Stein, mit Moos und Flechten bedeckt, und Name und Inschrift waren unleserlich. Von einer plötzlichen, unerklärlichen Neugierde erfasst, blieb ich stehen und bückte mich, nahm einen Stein und schabte etwas von dem Moos ab. Nach und nach verdeutlichten sich die Buchstaben, und ich erkannte zwei Jahreszahlen. Ich entfernte ein wenig mehr von der moosigen Schicht, weil ich doch den Namen wissen wollte. Ich kratzte und rieb und schließlich las ich:
Nomina temporis pulvis.
Mein Latein lag verschüttet unter nützlichem und unnützem Wissen von Jahren, und eine Weile lang grübelte ich, doch es gelang mir nicht, |6| den Worten einen Sinn zu geben. Also nahm ich den Stein noch einmal zur Hand und kratzte weiter und legte einen Schriftzug frei, der nicht zu enden schien. Schließlich hatte ich die ganze Platte saubergeschabt, der Schweiß lief mir in dünnen Rinnsalen die Arme hinunter, und mein Hemd klebte am Körper. Auf dem ganzen Grabstein war kein Name zu finden. Stattdessen stand dort:
Namen sind nichts als der Staub der Zeit. Sie markieren einen Weg, dessen einzige bemerkenswerte Ereignisse Abreise und Ankunft sind.
Ich legte den Stein auf die Platte, ganz rechts an den Rand, und erhob mich.
In den nächsten Wochen führten mich meine nachmittäglichen Spaziergänge wieder über den Friedhof, und es war mir zur Gewohnheit geworden, einen Umweg zum Grab jenes Namenlosen zu machen. Ich stellte mir vor, wie es sei, auf der kalten Granitplatte zu liegen, ich fantasierte davon, mir in dunklen Kreisen einen Revolver zu besorgen und dort, auf der Platte, meinen Tod zu inszenieren. Bei der Vorstellung an die Sudelei, die das unweigerlich nach sich zöge, schwenkte ich gedanklich auf Schlaftabletten um. Schlaftabletten und Alkohol, und das in einer bitterkalten Winternacht, das wäre durchaus |7| erwägenswert. Und unter dem Gesichtspunkt der Ästhetik gerade noch vertretbar.
An einem regnerischen Tag Anfang Dezember trieb mich eine Schaffenskrise – ich war zu jener Zeit ein in Expertenkreisen hoch geschätzter, aber leider mittelloser Dichter und verdingte mich als Schreiber von Romanheften – noch vor dem Mittagessen aus dem Haus. Eine gestaltlose Wut über die von mir zu erfüllende Aufgabe erstickte meine Worte und Ideen, und so lief ich durch die Straßen, vor meinen Ängsten davon und hinter der leichten Muse her, bis ich wieder auf dem Friedhof landete.
Die Adventszeit hatte gerade begonnen, und auf den Nachbargräbern lagen Gestecke aus Tannen und Stechpalmen, Efeu und Ligusterbeeren. Flüchtig dachte ich daran, dass ich unabwendbar auf einen einsamen Heiligabend zusteuerte. Seit Jahren schon fühlte ich eine große Leere und Sinnlosigkeit in mir und einzig einer mir eigenen Trägheit schrieb ich den Umstand zu, es bisher noch nicht geschafft zu haben, meinem Leben ein vorzeitiges Ende zu setzen.
Wer meine Eltern waren, wusste ich nicht, und nach einer überwiegend trostlosen Kindheit in verschiedenen Heimen gab es niemanden, dem ich durch einen Suizid eine Last auferlegt hätte. Nein, mein Tod würde keine schmerzliche |8| Lücke in eine Familie reißen, ein Gedanke, der beinahe Bedauern in mir auslöste: Eine Leich’ war schließlich nur dann schön, wenn vor dem Wirtshaus ein paar Leute weinten.
Ich sah ihn vor mir, diesen versprengten Haufen, dieses Grüppchen Vereinzelter, die wie an einer Vororthaltestelle an einem Sonntagnachmittag im Februar am offenen Grab herumstehen würden. Wahrscheinlich würde es nieseln und der Laienprediger, oder wer sonst die Grabrede bei einem Abtrünnigen hielt, würde sich beeilen, zum Ende zu kommen.
Vielleicht waren es aber auch nicht meine Todesphantasien, sondern die Gedanken an das heranrückende Weihnachtsfest, die mich erneut auf den Friedhof getrieben hatten, aber ich konnte eine gewisse hintersinnige Neugier nicht leugnen, die mich von Grabstein zu Grabstein pendeln ließ, die Inschriften und vor allem die Daten inspizierend. Suchte ich doch so etwas wie Ermutigung, einen letzten Ansporn, der mich zum Handeln animieren würde? Letztlich hielt ich schon immer Ausschau nach einem Vorbild. Mit einer gewissen Enttäuschung stellte ich alsbald fest,
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