STYX - Fluss der Toten (German Edition)
Verhasster Fluss, verhasstes Land
Karl Plepelits
1
Eine der großen Fragen der Menschheit lautet: Wo befinden sich die Seelen der Verstorbenen? In der Unterwelt, wie manche Religionen lehren? Oder im Himmel, wie das Christentum es lehrt und wie es Florestan in seiner unvergesslichen ersten Arie so wunderbar beschreibt:
»Ein Engel, Leonoren, der Gattin, so gleich,
der führt mich zur Freiheit ins himmlische Reich.«
Ganz sicher scheint sich indes auch die christliche Offenbarung nicht zu sein, ob die Verstorbenen nicht etwa doch in der Unterwelt leben (falls der Ausdruck »leben« hier erlaubt ist). Schließlich heißt es im Apostolischen Glaubensbekenntnis von Christus ausdrücklich: »... gekreuzigt, ge- storben und begraben, hinabgestiegen in das Reich des Todes« (früher: »zur Hölle«).
Ähnliches berichtet der griechische Mythos vom Sänger Orpheus (der in der frühchristlichen Kunst aus eben diesem Grund mit Vorliebe als Symbol für den auferstandenen Christus dargestellt wird): Nach dem frühen Tod seiner innig geliebten Gattin Eurydike sei er in die Unterwelt hinabgestiegen und habe dort durch seinen Gesang und sein Lyraspiel die Wächter des Totenreiches und schließlich Pluton, dessen Herrscher, selbst so sehr bezaubert, ja zu Tränen gerührt, dass dieser seine Bitte erhörte und ihm Eurydike zurückgab, freilich unter einer Bedingung: Er müsse vorangehen und dürfe sich nicht nach ihr umwenden, ehe sie die Oberwelt erreicht hätten. Als nun deren Licht bereits in der Ferne zu sehen war, Orpheus aber Eurydikes Schritte hinter sich nicht mehr hörte, wandte er sich aus Liebe und brennender Sorge unwillkürlich doch um. Augenblicklich verwandelte sie sich in einen Schemen aus Nebel und entschwand im Reich des Hades. Und diesmal blieb ihm der Weg dorthin versperrt, und seine Musik verhallte ungehört.
2
Südlich von Wien, zwischen Rax und Schneeberg, findet sich ein enges, von steilen Felswänden begrenztes Tal, genannt das Höllental.
Wie, so fragt sich Luciano Schroll, der große Meister, ist das Höllental wohl zu seinem Namen gekommen? Hat es damit etwa eine besondere Bewandtnis? Und er beschließt, der Sache auf den Grund zu gehen. Er nutzt einen freien Tag zwischen zwei Auftritten an der Wiener Staatsoper, begibt sich ins Höllental und wandert zu einer Höhle, die er vor Jahrzehnten, als er noch am Anfang seiner Sängerkarriere stand, bei einer Wanderung entdeckte, aber nicht weiter beachtete. Vergessen hat er sie freilich nicht, und jedes Mal, wenn er auf den Opernbühnen der Welt den Orpheus gibt, muss er an sie denken und fragt sich, ob in ihr etwa ein Zugang zur Hölle zu suchen sei, natürlich nicht zu einer Hölle, wo sich die Teufel an den Qualen der Verdammten weiden – an dieses Ammenmärchen glaubt er ja längst nicht mehr –, sondern zu der Hölle, in die Christus hinabgestiegen ist, sprich, dem Hades, der Unterwelt, in der die Seelen der Abgeschiedenen wohnen. Orpheus, sagt er sich, hat es gewagt. Warum soll ich es nicht wagen? Ist meine Liebe etwa weniger stark? Ist meine Trauer denn geringer?
In der Tat, Schrolls Trauer ist gewiss nicht geringer als die des Orpheus. Er trauert um seine über alles geliebte schöne, junge Gattin Donna, auch sie eine berühmte Sängerin, eine Ikone der Popmusik, verehrt, bewundert, angebetet von den Massen; und gar viele Verehrer umlagerten sie, begehrten sie, bedrängten sie, natürlich stets vergeblich. Denn sie liebte Luciano mit derselben Hingabe wie er sie. Aber dann geschah es eines Nachts nach einem Konzert in Paris, dass sie auf der besinnungslosen Flucht vor einem allzu stürmischen Verehrer direkt in ein Auto lief und ihre Seele aushauchte.
Sie hauchte ihre Seele aus und ließ Luciano in unsagbarer Trauer zurück. So sehr trauert er um sie, dass er auf die Idee verfiel, dem Beispiel des Orpheus zu folgen.
3
Ausgerüstet mit einer starken Stirnlampe begibt er sich zu jener Höhle im Höllental und macht sich mit kaum weniger Lampenfieber an den Abstieg, als vor jedem seiner Auftritte; denn der Höhlenboden fällt sofort steil ab. Und während er sich noch über den merkwürdigen Umstand wundert, dass diese Höhle als möglicher Zugang zur Unterwelt heutzutage so gut wie unbekannt ist, scheint seine Expedition auch schon zu Ende zu sein. Nackter, abweisender Fels starrt ihm entgegen. Aber dann sagt er sich: Wenn der Apostel Paulus damit recht hat, dass der Glaube Berge versetzen kann, dann muss der Glaube auch Felsen durchbrechen
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