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Wiedersehen in Hannesford Court - Roman

Wiedersehen in Hannesford Court - Roman

Titel: Wiedersehen in Hannesford Court - Roman
Autoren: dtv
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    I m Jahr 1919 war London eine Stadt der Schatten. Ich kam spät am Abend an, die Uniform noch schmutzig vom Staub Flanderns, und nahm ein Zimmer im Mecklenburg Hotel, weil ich vor der Leere in meiner Wohnung am Rudolph Square zurückscheute. Es war eine einsame Reise gewesen, das Schiff ruhig, der Zug beinahe verlassen, und ich war ziemlich bedrückt. Ich war in Gesellschaft von Freunden in den Krieg gezogen, von Menschen, die ich gut kannte. Nun kehrte ich allein in eine Stadt zurück, in der ich mich als Fremder fühlte.
    Drei Tage vor Weihnachten hätte die gesellschaftliche Saison eigentlich ihren Höhepunkt erreicht haben müssen, doch London wirkte trostlos und seltsam stumm. Die großen Stadthäuser wären früher im Lichterglanz erstrahlt, auf den Straßen davor hätten sich die Automobile gedrängt. Selbst auf dem Höhepunkt des Gemetzels hatte die Stadt eine ruhelose Fröhlichkeit bewahrt, eine nahezu verzweifelte Entschlossenheit, den Augenblick zu genießen. Ich hatte hohlwangige Offiziere auf Heimaturlaub gesehen, die sich binnen weniger Stunden in die schneidigen jungen Kerle zurückverwandelten, an die sich ihre Freunde erinnerten, die im Mimosa’s dinierten, im Clarion tanzten und immer die Ersten waren, wenn es um Mädchen oder Alkohol ging. Lediglich die Schatten in ihren Augen waren verräterisch, und das auch nur für jene, die wussten, wohin sie schauen mussten. Doch seit damals hatte sich vieles verändert. Jetzt erstreckte sich die Zukunft bis zueinem ferneren Horizont, und nur wenigen gelang es, so zu feiern wie früher. Und so lagen die Stadthäuser im Dunkeln, düstere Denkmäler für die Verlorenen, und ich saß allein im prachtvollen, halb leeren Speisesaal des Mecklenburg und aß ein bescheidenes Kotelett.
    Ich hätte früher zurückkehren sollen. Als ich die blassen, unvertrauten Gesichter der anderen Gäste betrachtete, wurde mir klar, dass mir etwas entgangen war. Wäre ich unmittelbar nach dem Ende der Kämpfe zurückgekommen, als sich die Stadt noch immer wie in einem Rausch befand, hätten mich Jubelschreie und Hupen und eine Nation im Ausnahmezustand begrüßt; Straßenlaternen und Fenster mit offenen Läden, die im Dunkeln erstrahlten; Kirchturmuhren, die trotzig nachts die volle Stunde schlugen, nachdem sie zuvor wegen der Zeppeline hatten schweigen müssen. Es hätten Geschrei und Aufregung geherrscht, und der ganze Trubel hätte mir gezeigt, dass es wirklich vorbei war.
    Doch in den Tagen nach dem Waffenstillstand, als mich die Stille auf den Schlachtfeldern beunruhigte und ich mich daran zu erinnern versuchte, wer ich wirklich war, war mir nicht nach Feiern zumute gewesen. Die Toten blieben tot, auch wenn die Waffen schwiegen; ich hatte keine Ahnung, weshalb ich nicht unter ihnen war. Und dann hatte die Grippe das Lager erreicht, es fehlte an Offizieren, und alle, die in Frankreich geblieben waren, schienen in Gedanken stets bei ihren Frauen und Kindern zu sein. Ich sah sie Briefe nach Hause schreiben und bekam ein schlechtes Gewissen. Die meisten waren noch nicht lange in Uniform. Ich kannte sie weniger gut als viele der Männer, die noch draußen auf den Schlachtfeldern lagen. Aber was waren nach so langer Zeit schon ein paar Monate für mich? Ohne lange zu überlegen, deutete ich an, dass ich es nicht besonders eilig hatte, den Kanal zu überqueren.
    In England schien es niemanden zu beunruhigen, dass sichmeine Rückkehr verzögerte. Meine Schwester kannte mich zu gut, um gekränkt oder überrascht zu sein. Sie schrieb mir gewissenhaft freundliche, liebevolle Briefe, in denen sie von meinen Neffen berichtete und mir ein herzliches Willkommen in Derbyshire versprach, sobald ich aus der Armee entlassen wurde. Und meine Mutter, die mitsamt ihrer Sekretärin, ihrer Schriftstellerei und dem Ausblick auf Cap Martin ruhig und heiter in Südfrankreich lebte, schrieb mir von ihrem Briefträger und ihrem Verleger und den herrlichen fruits de mer aus der Bucht unterhalb ihres Hauses, als hätte sich nichts auf der Welt verändert. Ich war entschlossen, beide zu besuchen, sobald ich meinen Abschied bekam. Danach wollte ich mir eine schönere Wohnung in London suchen, mit Blick auf einen Park, und entscheiden, was ich mit der Zukunft, die mir so unerwartet zuteilgeworden war, anfangen sollte.
    Doch wenn die anderen abends in der Offiziersmesse über England sprachen, dachte ich an das Moor bei Hannesford. Wenn sie davon sprachen, Weihnachten zu Hause zu sein, erinnerte ich mich an
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