008 - Hexenbalg
1
Es war Ende Januar. Gespenstisch heulte der Wind über Manhattan, presste den Passanten die Mäntel an den Leib und wirbelte Papiere und leere Zigarettenschachteln vor sich her. Zeitungsblätter trieben die Gehsteige entlang. Von den Karren der Händler, die geröstete Kastanien feilboten, stiegen Rauchschwaden geisterhaft zum steingrauen Himmel empor.
Beth Mitchell, die den Broadway entlangging, sah flüchtig ihr trübes Spiegelbild in einer Schaufensterscheibe. Das tiefschwarze Haar und die Augen hoben sich wie geheimnisvolle Schatten von ihrer elfenbeinfarbenen Haut ab. Der korallenrote Mund bildete den einzigen Farbfleck. Es war das Spiegelbild einer schönen, noch jungen Frau, gut gewachsen und schick gekleidet.
Für Beth jedoch war das Gesicht erschreckend. Die Wangen waren bleich, die Augen, unter denen dunkle Ringe lagen, blickten gehetzt. Sie verkroch sich noch tiefer in ihren dunkelblauen Mantel und bereute plötzlich, dass sie nicht den leuchtend roten erstanden hatte, auf dem ihr Blick zuallererst hängen geblieben war.
Ihre Stimmung glich dem trüben Tag. Ein Fetzen Zeitungspapier flatterte gegen ihre Beine, wurde wieder vom Wind erfasst, hoch in die Luft gewirbelt und flog davon wie eine in die Flucht geschlagene Hexe.
Nein, nicht wie eine Hexe. Kein Wort mehr von Hexen! Nichts mehr von Dämonen, von Teufeln, Zauberern, magischen Kreisen! Das alles war vorbei.
Nach langer Zeit war die teuflische Krankheit endlich von ihr gewichen. Dr. Bollard hatte es ihr bestätigt. »Beth, Sie sind wieder gesund«, hatte er gesagt. »Gehen Sie hinaus, und genießen Sie das Leben.«
Hinausgehen und leben! Aber wohin sollte sie gehen? Gewiss nicht zurück nach Colwood in Massachusetts, wo sie als Frau von Peter Mitchell gelebt hatte. Nein, dorthin bestimmt nicht.
So war Beth nach New York gekommen, angelockt von den Erinnerungen an die glücklichsten Tage ihres Lebens. Das war eine Zeit, als sie Selbstsicherheit und Frische ausgestrahlt hatte. Sie war nach New York zurückgekehrt – aber nicht zu dem Leben, das sie hier geführt hatte. Seit sie sich vor vier Tagen ein Hotelzimmer genommen hatte, hatte sie keinen Versuch unternommen, mit ihren alten Freunden wieder Kontakt aufzunehmen. Es wäre für alle Beteiligten bloß peinlich gewesen.
Und jetzt war sie auf der Suche nach einer Stellung. Nach irgendeinem Job, einer anonymen Tätigkeit, mit der sie ein neues Leben aufbauen konnte. Aber bisher hatte es nur höfliche Absagen gegeben. »Leider, im Moment haben wir nichts für Sie … Wenn Sie vielleicht in ein paar Wochen …« Das hieß niemals, obwohl sie hervorragende Zeugnisse hatte. Manchmal bemerkte sie sogar schlecht verhohlene Angst in den Augen ihres Gegenübers.
Nein, sie konnte es niemandem verübeln. Es war nicht zu erwarten, dass jemand ihr eine Arbeit gab nach dem, was sie getan hatte. Und wenn man in Betracht zog, wo sie herkam.
Beth fror, und die Schuhe drückten. Jetzt brauchte sie dringend eine Tasse Kaffee, und sie bog an der nächsten Ecke ab. Ihr war klar, in welche Richtung sie jetzt ging. Eine kleine, unangenehme innere Stimme meldete sich und riet ihr ab. Aber eine andere, drängendere Stimme gab ihr ein: »Warum nicht? Ich möchte doch nur Kaffee trinken. Was macht es schon aus, wenn ich jetzt in das Lokal in der Seventh Avenue gehe?«
Während der Winter die Stadt New York noch fest im Griff hatte, war auf der Seventh Avenue der Frühling in voller Blüte, das wusste Beth. Dort liefen um diese Zeit die Modenschauen der großen Modesalons ab. Auf den Laufstegen paradierten Mädchen in Gewändern, die in allen Frühlingsfarben leuchteten, helle Sommerkleider, teure, exklusive Muster und unpraktische, verrückte Modelle – das alles war einmal Beths Welt gewesen. Auch Marq war in dieser Welt zu Hause, und es war ihre gemeinsame Welt geworden.
Damals, an jenem Wintertag, hatte sie am Tag der Abschlussprüfung der Modeakademie ein todschickes Abendkleid – einen eigenen Entwurf – auf den Laufsteg geschickt, frisch und unbeschwert wie ihre Hoffnungen.
Nachher hatte sie es kaum fassen können, als sie einem blonden, eleganten Mann vorgestellt wurde, der sich für ihre Arbeit interessierte. Sie wusste natürlich, wer er war: Marq Gipson, der sich mit seinen Kreationen binnen weniger Jahre einen hervorragenden Platz in der Modewelt geschaffen hatte.
Er hatte sie damals in dasselbe Lokal geführt. Statt in Tassen wurde dort der Kaffee in großen Krügen serviert. Beth war
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