09 - Denn sie betrügt man nicht
Barbara dachte nach. Sie dachte über alles nach, was sie gehört hatten: von Theo Shaw, von Rachel Winfield, von Sahlah Malik, von Ian Armstrong, von Trevor Ruddock. Sie dachte über alles nach, was sie wußten: daß Sahlah schwanger war, daß Trevor fristlos entlassen worden war, daß Gerry DeVitt in Querashis Haus gearbeitet hatte, daß Cliff Hegarty der Liebhaber des Ermordeten gewesen war. Sie dachte über die Alibis nach, darüber, wer eins hatte und wer nicht, was jedes einzelne bedeutete und wie es ins Gesamtbild paßte. Sie dachte -»Himmel!« Sie sprang auf, packte mit einer schnellen Bewegung ihre Tasche und nahm den Schmerz, der wie ein Stich durch ihre Brust fuhr, kaum wahr. Sie stand viel zu sehr unter dem Schock der plötzlichen, entsetzlichen, aber kristallklaren Erkenntnis, die ihr gerade gekommen war. »O mein Gott! Natürlich. Ganz klar!«
Emily drehte der Nacht draußen den Rücken. »Was?«
»Er hat es nicht getan. An dem Menschenhandel war er beteiligt, ja. Aber er hat Querashi nicht ermordet, Em. Siehst du denn nicht -«
»Versuch nicht, mich zum Narren zu halten«, schnauzte Emily sie an. »Wenn du glaubst, du kannst einem Disziplinarverfahren entkommen, indem du diesen Mord einem anderen als Malik -«
»Ach, geh doch zum Teufel, Em«, unterbrach Barbara ungeduldig. »Willst du den wahren Mörder fassen oder nicht?«
»Du vergißt dich schon wieder.«
»Sonst was Neues? Setz es in deinen Bericht. Aber wenn du den Fall hier abschließen willst, dann komm jetzt mit.«
Es bestand kein Grund zur Eile, darum schalteten sie weder Blinklicht noch Sirene ein. Während sie die Martello Road hinauffuhren, von da weiter zum Crescent, wo Emilys Haus in Dunkelheit lag, vom Crescent in die Parade einbogen und hinten am Bahnhof vorbeifuhren, erklärte Barbara. Emily leistete Widerstand. Emily widersprach. Emily setzte ihr knapp und heftig auseinander, warum sie sich irrte.
Aber für Barbara war klar, daß alles da war und von Anfang an dagewesen war: Motiv, Mittel und Gelegenheit. Nur hatten sie es nicht gesehen, geblendet von ihrer eigenen vorgefaßten Meinung darüber, welcher Typ Frau sich widerstandslos in eine von den Eltern arrangierte Heirat fügte. Sie müsse fügsam sein, hatten sie gedacht. Keinen eigenen Willen haben. Sie würde sich aufgeben, um anderen zu dienen - zuerst dem Vater, dann dem Ehemann, dann den älteren Brüdern, wenn welche da waren -, und sie wäre unfähig zu handeln, selbst wenn es dringend erforderlich wäre.
»Das ist doch das Bild, das wir haben, wenn wir von solchen arrangierten Heiraten hören«, sagte Barbara.
Emily hörte ihr mit verkniffenem Mund zu. Sie waren im Woodberry Way und glitten an den Fiestas und Carltons vorüber, die vor den schäbigen Reihenhäusern in diesem älteren Stadtviertel parkten.
Barbara sprach weiter. Aufgrund der großen kulturellen Unterschiede zwischen West und Ost, erklärte sie, sähe man im Westen die asiatischen Frauen als willensschwach an - wie die Zweige einer Weide, die hilflos in jedem Wind schwankten, der sie erfaßte. Aber was man dabei übersehe, sei die Tatsache, daß der Weidenzweig eine große Elastizität besitze, die sich im Lauf der Zeit entwickelt habe. Sollte der Wind wehen, sollte der Sturm doch heulen. Der Zweig bewegte sich, aber nichts konnte ihn vom Baum reißen.
»Wir haben nach dem Offenkundigen geschaut«, sagte Barbara, »weil es das einzige war, womit wir arbeiten konnten. Es war logisch, richtig? Wir haben nach Haytham Querashis Feinden gesucht. Wir haben nach Leuten gesucht, die was gegen ihn hatten. Und wir haben sie gefunden. Trevor Ruddock, der von ihm gefeuert worden war. Theo Shaw, der mit Sahlah verbandelt war. Ian Armstrong, der seinen Job wiederbekam, als Querashi tot war. Muhannad Malik, der Querashi fürchten mußte, weil der von seinen Geschäften wußte. Wir haben alles in Betracht gezogen. Einen schwulen Liebhaber. Einen eifersüchtigen Ehemann. Einen Erpresser. Jede Möglichkeit haben wir genauestens unter die Lupe genommen. Nur was Querashis Tod im größeren Lebenszusammenhang einer ganzen Gruppe von Menschen bedeutet, das haben wir nicht bedacht. Wir sahen seine Ermordung als etwas, was einzig ihn betraf. Er war jemandem im Weg. Er hatte jemandem die Arbeit genommen. Er wußte etwas, was er nicht wissen sollte. Also mußte er sterben. Aber wir haben nie erkannt, daß seine Ermordung vielleicht gar nichts mit ihm persönlich zu tun hatte. Uns ist nie in den Sinn gekommen, daran zu
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