1155 - Luzifers große Stunde
hineinstach in freies Gelände, wo kein Mensch etwas kultiviert hatte. Wir schaukelten an Büschen vorbei, sahen uns dann einem lichten Wald gegenüber, waren aber auch in der Lage, schon einen Blick auf die Mauer des Friedhofs zu werfen. Nur fahren konnten wir nicht mehr. Den Rest des Weges mussten wir zu Fuß gehen.
Beim Aussteigen hatte ich das Gefühl, von einem noch stärkeren Grau umgeben zu sein. Es war eine Täuschung, denn es lag an den Bäumen, die auch viel Licht schluckten.
Suko warf mir einen bedeutungsvollen Blick zu, bevor er auf den Friedhof zuging. Das Licht hing zwischen den Bäumen wie ein dichtes Spinnengewebe, aber die Sicht wurde uns nicht genommen.
Noch konnten wir alles klar erkennen. Auch die Mauer des Friedhofs, die vor uns aufragte.
Sicherlich gab es einen normalen Eingang. Den zu suchen, fehlte uns einfach die Zeit. Beim Überklettern der alten Steinmauer beobachtete uns kein Mensch, und so fühlten wir uns recht sicher, als wir auf dem Gelände landeten.
Es war ein typischer Friedhof. Und der war recht alt, das konnten wir mit einem Blick erkennen. Es lag an den Grabsteinen, von denen manche viele Jahrhunderte auf dem Buckel hatten. Sie ragten oft breit und wuchtig in die Höhe, sahen rissig aus, manche standen auch schief, und allesamt bildeten Hindernisse, die uns einen Teil der Sicht nahmen. Hinzu kamen die Hecken und auch die kleinen Bäume, deren noch leeres Geäst traurig im grauen Licht wirkte.
Wir achteten weniger auf die Steine als auf die Gräber. Dabei suchten wir nach aufgewühlter Erde, denn es war durchaus möglich, dass Luzifer die Toten aus den Gräbern geholt hatte, um sie in die Welt zu schicken.
Diese Vermutung wurde zum Glück nicht bestätigt. Die Gräber sahen alle normal aus. Niemand hatte sich daran zu schaffen gemacht und sie zerstört.
Was auffiel, war die Ruhe. Okay, auf einem Friedhof ist es meistens still, hier aber fiel uns die Stille besonders auf. Sie war irgendwie bedrückend und auch belastend. Wir hatten Frühling. Es war auch die Zeit, in der die Vögel sangen und sich über den Jahreswechsel freuten. Auf diesem Gelände hörten wir nichts. Kein Vogel zwitscherte. Das graue Licht schien die Tiere stumm gemacht zu haben, weil sie sich in ihrem Rhythmus gestört sahen.
Die einzigen Lebewesen, die sich auf dem Friedhof bewegten, waren Suko und ich. Und wir kamen uns ziemlich fremd und verloren vor. Zwei Suchende, die wussten, dass etwas passiert war, die aber nicht sahen, was.
Das Licht hatte ein graues Tuch über das Gelände gelegt. Die Luft war sehr klar, doch ich ging davon aus, dass der Spuk seine Fühler ausgestreckt hatte.
Neben einer alten Bank aus Eisen blieb Suko stehen und drehte sich zu mir um. »Sind wir hier falsch oder richtig?«
»Vielleicht beides.«
»Möglich.« Er blickte sich um. »Sag mir, was du fühlst, John. Was erklärt dir deine innere Stimme?«
»Nicht viel, wenn ich ehrlich bin. Ich spüre, dass wir hier richtig sind, aber es gibt keinen Weg, keinen Hinweis und…«
»Ihr seid hier richtig!«
***
Urplötzlich war die fremde Männerstimme erklungen, und sie hatte uns auch direkt angesprochen.
Im ersten Moment taten wir beide nichts, weil wir erst herausfinden wollten, aus welcher Richtung die Stimme uns erreicht hatte. Wir hatten den Sprecher zuvor auch nicht gesehen, was sich jetzt änderte, als er hinter einem der hohen Grabsteine hervortrat. Dort hatte er auf uns gewartet und kam mit zögernden Schritten auf uns zu. Dabei ließ er uns nicht aus dem Blick und beobachtete uns von Kopf bis Fuß.
Er war ein kräftiger Mann mit breiten Schultern und graublonden Haaren. An seinem Kinn wuchs ein Bart. Die Gesichtshaut zeigte eine gesunde Farbe, doch in den rauchgrauen Augen sahen wir Furcht flackern.
Ich hatte mein Schwert mitgenommen und die Spitze gegen den Boden auf einen Stein gedrückt.
Der Ankömmling ließ die Waffe nicht aus den Augen, und als er stehenblieb, nickte er.
Was das bedeutete, erklärte er uns wenig später. »Ja, ihr seid die richtigen. Mir wurde gesagt, dass einer von euch ein Schwert mitbringt. Dann hat er nicht gelogen.«
»Wer hat nicht gelogen?«, fragte Suko.
Über das Gesicht des Mannes huschte ein Lächeln. »Es war die Gestalt oder der Mensch, der fliegen konnte.«
»Raniel!« flüsterte ich.
»Kann sein, dass er so heißt.«
»Und Sie haben mit ihm gesprochen?«
»Ja.«
»Wer sind Sie?« wollte Suko wissen.
»Ich heiße Ben Adams, und ich habe inzwischen das Gefühl, dass
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