AFFÄREN, DIE DIE WELT BEWEGTEN
aber nicht. Oberst Redl war ein Geheimdienst-Experte, der beste, den die Monarchie hatte. Und er konnte immerhin zwölf Jahre lang sein Doppelleben verbergen und seine Kameraden in der Evidenzstelle täuschen. Denn die Enttarnung des Meisterspions glückte nur durch einen Zufall.
Im April 1913 war ein postlagernder Brief an einen gewissen Herrn „Nikon Nizetas, Österreich, Wien, Hauptpost, postlagernd“ vom Wiener Hauptpostamt vom Fleischmarkt an seinen Absender in Berlin zurückgeschickt worden. Aufgegeben worden war das Kuvert in der ostpreußischen Stadt Eydtkuhnen. Hier befand sich ein damals von Geheimagenten gern genutzter Grenzübergang zwischen dem russischen Zarenreich und dem Deutschen Kaiserreich. Niemand hatte den Brief behoben. Erst in Berlin wurde der dicke Umschlag geöffnet. Dabei entdeckten die erstaunten Postbeamten 6000 österreichisch-ungarische Kronen im heutigen Wert von rund 45.000 Euro. Wertvoller als die Geldscheine waren aber Ortsangaben, die im Kuvert gefunden wurden. Dem preußischen Geheimdienst waren diese Adressen in Paris und Genf gut bekannt. Der aufmerksame Chef des Nachrichtendienstes, Major Walter Nicolai, informierte seinen österreichischen Kollegen vom Evidenzbureau, Major Maximilian Ronge, postwendend. Das Kuvert wurde wieder verschlossen und nach Wien aufs Hauptpostamt expediert, es war aber so ramponiert, dass ein neues Kuvert angefertigt und via Berlin wieder nach Wien geschickt werden musste, damit der Adressat nicht sofort Verdacht schöpfen würde, falls er denn käme. Vier Wochen lang hielten Geheimdienstmitarbeiter Tag für Tag unauffällig Wacht. Sie hofften, der Adressat würde die wertvolle Post doch noch abholen. Die Staatspolizei ließ gar zwei elektrische Klingelanlagen installieren. Der diensthabende Postbeamte sollte beim Erscheinen eines Verdächtigen die wartenden Polizisten herbeirufen. Und der Verdacht verstärkte sich. Es langten noch zwei weitere Kuverts auf dem Postamt ein. Beide enthielten wieder tausende Kronen in Scheinen. Ein Absender bezeichnete sich als „J. Dietrich“. Dieser Name lieferte eine weitere Spur. Denn „Dietrich“ galt in Spionagekreisen als Chiffre für Sankt Petersburg.
Am 24. Mai 1913 war es dann so weit. Das damals 19 Jahre alte Postfräulein Betty Österreicher erinnerte sich Jahre später in einem Interview mit der „Neuen Illustrierten Wochenschau“ – abgedruckt von Georg Markus in „Der Fall Redl“: „Knapp vor fünf Uhr stand auf einmal ein Herr in Zivil, grauer Anzug, dunkler Hut vor meinem Schalter und legte mir einen Zettel hin, auf dem der Name ‚Nikon Nizetas‘ stand. Vorsichtig suchte ich den Klingelknopf unter meinem Schalterbrett und drückte ihn nieder.“
Vor seinem Postamtsbesuch hatte Redl seinen Geliebten Stefan zu einer Aussprache ins Hotel Klomser gebeten. Der Ulanen-Leutnant wollte – wieder einmal – die Affäre beenden. Auf Zimmer Nr. 1 kommt es zu einer erregten Auseinandersetzung. Stefan Horinka sagt seinem Liebhaber und Protegé, dass er den „Verkehr mit ihm unter allen Umständen abbrechen werde“. Die k. u. k. Militärjustiz agierte zwar spät, aber gründlich. In den Gerichtsakten ist das Ergebnis einer medizinischen Untersuchung protokolliert. Demnach habe es an jenem Nachmittag im Hotel Klomser zwischen Redl und seinem jugendlichen Freund „keine Anhaltspunkte für einen homosexuellen Geschlechtsverkehr gegeben“. Bei der gerichtsmedizinischen Untersuchung des Leichnams von Alfred Redl diagnostizierten die Pathologen, dass das Kreislaufsystem des 49-Jährigen schwer geschädigt war. Es dürfte sich dabei um eine Spätfolge der Syphilis-Erkrankung Redls gehandelt haben. Er war – so oder so – ein todgeweihter Mann.
War die Affäre Redl tatsächlich für den Ausgang des Ersten Weltkriegs (mit)entscheidend? Als man in Redls Prager Privaträumen die „Kriegsordre de Bataille“, die Mobilisierungsanweisungen für alle Eventualfälle, das Reservathandbuch, Maßnahmen der Spionageabwehr in Galizien, Deckadressen fremder Generalstäbe, Spionagekorrespondenzen, Dokumente über das Kundschafterwesen und anderes mehr gefunden hatte, ging man vom größten anzunehmenden Schaden – dem Verrat der österreichischen Aufmarsch-Planung gegen Russland – aus. Der österreichische Reichsratsabgeordnete Graf Adalbert Sternberg bewertete nach dem Ersten Weltkrieg die Rolle des Spions: „Dieser Schurke Redl hat jeden österreichischen Spion denunziert, denn der Fall des russischen Obersten
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