Alle Menschen werden Schwestern

gerufen werden«.]
    Die grundsätzliche, nach Belieben aber auch widerruf- und vor allem abstreitbare Vaporisierung von Frauen gelingt am elegantesten mittels der grammatischen Vorschrift, daß die Bezeichnungen für Männer, wenn es unbedingt sein muß, »Frauen mitbezeichnen können«. Im Englischen, dem Oldspeak Orwells, leistet im wesentlichen das Pronomen he die gesamte Vaporisierungsarbeit. Alle Personenbezeichnungen, die nicht ausdrücklich auf Frauen referieren, müssen durch he pronominalisiert werden, z. B. »a Student will pass his exams successfully if he...« [Diese einstmals starre Regel wurde inzwischen nach massiven feministischen Protesten bekanntlich gelockert; zu Orwells Zeiten aber galt sie, und darum geht es hier in erster Linie.] Im Deutschen haben wir andere Frauen-Vaporisierungs-Regeln, die insgesamt jedoch noch weit effektiver sind. Jede maskuline Personenbezeichnung des Deutschen ist grundsätzlich doppeldeutig. Sie besitzt eine Hauptbedeutung, »Männer«, und eine Nebenbedeutung, »Männer und/oder Frauen« — und so dürfen wir Frauen denn bei jedem Satz über Personen raten, ob wir wohl mitgemeint sind oder nicht. »Eigentlich« sind wir zwar »gelöscht«, »vaporisiert«, nicht greifbar — zur Not können wir aber doch wieder hervorgezaubert werden. Diese Regel gehört zum Grundbestand der deutschen Grammatik und trainiert alle diejenigen, die sie als Muttersprache erlernen, von Kindheit an gründlich in der geistigen Technik des Doublethink , insofern sie nahelegt, daß

    a) Menschen Männer sind und Frauen einer anderen Spezies angehören [dies gilt vor allem dann, wenn von Privilegien die Rede ist]

    b) Frauen auch Menschen sind, wenn es grad in den Kram paßt [vor allem dann, wenn von unangenehmen Pflichten, Strafen usw. die Rede ist]

    c) Frauen denjenigen Gruppen, denen sie faktisch angehören, nicht angehören

    [Es ist psychologisch verständlich, aber sehr unrealistisch, daß Frauen die Auslegung (b) zunächst einmal an alle Äußerungen »herantragen«. Es entgeht ihnen dadurch das kolossale Ausmaß ihrer tatsächlichen Vaporisierung — was durchaus im Interesse der Patriarchen ist. Die meisten Frauen wissen nicht, daß sie in dem wichtigsten Medium überhaupt, Sprache, kaum präsent sind.]
    Der grammatische Trick des »Mitmeinen-Könnens« beschert uns Sätze wie die in [3.3] aus der Orwell-Übersetzung zitierten oder Sätze wie

    Jeder kann Papst werden. Das beste Beispiel bin ich selbst. (Papst Johannes XXIII.) 9

    Der Durchschnittslohn eines Industriearbeiters beträgt DM 16 pro Stunde. 10

    Alle Menschen werden Brüder.

    Wer ja sagt zur Familie, muß auch ja sagen zur Frau. (Helmut Kohl)

    Wenn jeder »jeder Mensch« bedeutet, hat Papst Johannes XXIII. entweder gelogen, oder aber er benutzte die frauenvaporisierende Bedeutung von Mensch bzw. jeder . 11 Da nicht nur die Partei in 1984 , sondern auch der Papst unfehlbar ist, wird wohl letzteres der Fall sein.
    Der Durchschnittslohn einer Industriearbeiterin beträgt nicht DM 16, sondern nur etwa DM 11 pro Stunde. 12 Der obige Satz bezieht sich also nur auf Männer, wird aber sicher von den meisten anders, d.h. falsch, interpretiert.
    Die Frauenvaporisierung mittels der Grammatik wird bei uns noch flankiert durch gesetzgeberische Maßnahmen, besonders durch das Namensrecht. Eine Familie galt jahrhundertelang bis vor kurzem (und gilt für viele noch heute) als ausgestorben, wenn sie keine männlichen Nachkommen hatte (hat) — mochten auch noch so viele Frauen quicklebendig herumwuseln. Familienstammbäume können/konnten sich infolgedessen auf die Erwähnung der männlichen Familienmitglieder beschränken. Der Stammbaum der Familie Bach, angefertigt von Johann Sebastian persönlich, besteht ausschließlich aus Männern (ein früher Fall von Cloning??). 13 Der Stammbaum Jesu, Matth. I, 1 — 17, beginnt folgendermaßen:

    Das Buch der Abstammung Jesu Christi, des Sohnes Abrahams, des Sohnes Isaaks. Abraham zeugte den Isaak, Isaak zeugte den Jakob. Jakob zeugte den Juda und seine Brüder. Juda zeugte mit derThamar den Perez und den Serah. Perez zeugte den Hezron. Hezron zeugte den Aram. Aram zeugte den Amminadab. Amminadab zeugte den Nahason. Nahason zeugte den Salmon. [...]

    Was den biblischen Patriarchen recht war, ist den heutigen billig. Und so lesen wir denn in den Zeitungen:

    Glückwünsche für Eheleute Arthur Lipponer und Ludwig Lauer (Rhein-Neckar-Zeitung, 10./11. Nov. 1983, S. 7). 14

    Die Eheleutchen sind