Am Anfang war das Ende (German Edition)
aufgestanden und macht mir irgendwelche Zeichen. Aber obwohl ich mir Mühe gebe, begreife ich nicht, was sie meint.
Erst als ich wieder neben Benjamins Körper sitze, geht mir auf, was ich gesehen habe. Schnell stehe ich wieder auf und spähe zur Veranda hin. Alle vier sitzen genauso da, wie wir sie platziert haben, das sehe ich deutlich.
Zitternd kauere ich mich neben Benjamin, kuschle mich an ihn, lege die Arme um ihn. Ich friere.
»Oma«, murmle ich. »Oma, ich glaube, ich werde krank.«
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Als ich aufwache, sitzt sie an meinem Bett und hält eine Tasse mit warmem Honigwasser in der Hand.
»Hier, mein Schatz, trink das, dann fühlst du dich gleich viel besser.«
Ich rutsche im Bett hoch und trinke einen Schluck, obwohl das süße Wasser sehr heiß ist und mir fast die Lippen verbrennt. Oma sieht das natürlich, sie beugt sich vor und pustet langsam darauf. Dann versuche ich es erneut, und jetzt kann ich die heiße Flüssigkeit gut trinken. Pompom erhebt sich von seiner Schlafmulde über meinem Kopf, kommt her und beschnuppert das Honigwasser. Dann zieht er den Kopf schnell zurück, reckt sich und streckt sich der Länge nach zwischen mir und Oma aus.
Oma streicht mir übers Haar.
»Das ist nur eine ganz normale Erkältung«, sagt sie.
»Ich bin wohl zu viel geschwommen«, sage ich und werfe einen Blick auf mein silbernes Freischwimmerabzeichen an der Wand.
Da lacht sie und sagt, ich sei nur ein kleiner erkälteter Silberfrosch.
»Kommt Mama heute?«, frage ich.
Oma schüttelt den Kopf.
»Vielleicht am Wochenende«, sagt sie. »Sie ruft vorher an.«
Dies ist das letzte Mal, dass meine Gedanken in die alte Welt zurückkehren. Ich bekomme keine weiteren Bilder mehr. Es ist, als wäre der Kontakt plötzlich abgebrochen.
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Mein Leben ist ein Puzzle aus Tausenden von losen Teilen, so kommt es mir manchmal vor. Manche Menschen bezeichnen das als Erinnerungen. Aber das stimmt nicht genau, ich glaube nämlich, alles ist von Anfang an vorhanden. All diese Teile sausen schon bei deiner Geburt in dir herum und können eigentlich in jeder beliebigen Reihenfolge auftauchen. Aber es sind die Wochentage, die dafür sorgen, dass das nicht geschieht. Ich glaube, die Wochentage kleben das Leben so zusammen, dass es sich verfestigt und die Teile in eine gewisse Reihenfolge kommen.
Aber wenn man keine Bilder mehr übrig hat, was bleibt einem dann?
Ich weiß es nicht. Ich bin bloß eine Person, die Aufzeichnungen macht, und versuche diese Aufgabe, so gut ich kann, auszuführen.
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Als ich aufwache, sehe ich Hänflings Gesicht, das über den Rand der Plattform schaut.
»Was ist passiert?«, fragt er.
Ich kann nur den Kopf schütteln. »Komm rauf!«, flüstere ich.
Er hievt sich geschmeidig auf den Bretterboden.
»Benjamin ist tot«, sage ich.
»Tot?«
»Ich glaube, er war krank.«
Hänfling sieht mich an, und zum ersten Mal ahne ich einen Anflug von Panik in seinen klugen Kinderaugen. Er wendet den Blick ab. Sieht auf die Ebene hinaus. Sieht dasselbe Niemandsland wie ich, dann lässt er den Blick in Richtung Meer wandern.
»Die andern kommen jetzt«, sagt er tonlos.
Ich spähe am Rand der toten Silberbüsche entlang und sehe sie auftauchen.
»Höchste Zeit«, sage ich.
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33 . SZENE. AUSSENAUFNAHME. TAG. GARTEN.
DINAH, JUDIT, DAVID, GABRIEL, VENDELA, DIDDI UND DIE ANDEREN, (HÄNFLING).
Alle sind im Garten versammelt. Vendela hält die kleinsten Kinder an den Händen. David und Gabriel graben eine tiefe Grube. Sie stehen unten und werfen gelbe klebrige Erdmassen herauf. Der Schweiß hinterlässt helle Rinnsale auf ihren schmutzigen Gesichtern. Neben der Grube steht ein aus grünen Brettern zusammengenagelter Sarg. Der Deckel ist offen. Dinah und Judit tragen gemeinsam Benjamins Körper herbei. Sie halten ihn an den Armen und Beinen und senken ihn behutsam in den Sarg. Dinah bleibt mit gesenktem Kopf stehen. Ihre ganze Gestalt bebt.
34 . SZENE. AUSSENAUFNAHME. TAG. GARTEN.
DINAH, JUDIT, DAVID, GABRIEL, VENDELA, DIDDI UND DIE ANDEREN, (HÄNFLING).
Alle stehen im Kreis um den Sarg und halten einander an den Händen. Nur Hänfling fehlt. Sie singen ein Lied, dasselbe Lied, das sie schon einmal gesungen haben: »Blowin’ In The Wind«. Als das Lied zu Ende ist, schließen Gabriel und David den Deckel und nageln ihn zu. Diddi kommt mit ihrem Stoffhund zu ihnen her.
DIDDI
Der soll bei ihm sein.
DAVID
Bei Benjamin?
DIDDI (nickt)
Damit er nicht so allein
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