Anarchy in the UKR
er ins Bett fällt, wo seine treue, kinderlose Frau auf ihn wartet, geht er noch mal in die Küche, kippt sein Glas Wasser mit Brom, macht das Licht aus und klappt ab, ohne einen Gedanken an seine Pflichten vor Gott und den Menschen zu verschwenden, an seine Frau schon gar nicht. Halb so tragisch, sagt das Mädchen, kriegen wir schon hin, so ist das Leben, mmh, sag ich, aber was ist das denn für ein Leben, dieses ewige Generve, nein, antwortet sie, ich find das gut, ich hab Ferien und fahr jetzt heim nach Luhansk, und wo wollt ihr hin?
Vor ungefähr einem Jahr habe ich in einem Interview gesagt, ich würde gern ein Buch über Anarchismus schreiben. Jetzt weiß ich nicht mehr, warum ich das eigentlich gesagt habe, damals hatte ich nicht die geringste Lust, ein Buch über Anarchismus zu schreiben, aber das ist ja noch kein Grund, es nicht zu schreiben. Irgend jemand muß schließlich auch darüber schreiben, warum also nicht ich. Mein Ziel war klar und einfach – ich wollte die Orte aufsuchen, an denen die ukrainischen Anarchokommunisten am aktivsten gewirkt hatten, und dann etwas dazu schreiben. Ich nahm meinen Presseausweis und überredete Ljoschka, mitzukommen und Fotos zu machen. Ljoschka nahm die Sache sehr ernst und stellte einen Haufen Fragen, was er denn lesen solle, um sich einzuarbeiten, keine Ahnung, sagte ich, lies Kropotkin. Oder laß es besser. Der Sommer ging zu Ende, das Wetter wurde schlechter, und irgendwann fuhren wir wirklich los. Ljoschka hatte mich, wie gesagt, in Charkiw abgeholt, und nun waren wir schon seit ein paar Stunden schlaflos in diesem Zugabteil mit der rätselhaften Reisenden unterwegs und versuchten ihr zu erklären, wohin wir wollten, aber wir hatten keine Kraft und wußten auch nicht, wie wir es ihr erklären sollten. Ihr die Theorie der anarchistischen Selbstverwaltung darzulegen, traute ich mich nicht, was sollte sie auch damit, bei dem Brom und der Ausbildung, und von meiner Kindheit und den Dämonen zu erzählen, die hin und wieder zum Vorschein kommen, wäre zumindest merkwürdig gewesen, was würde sie schon von meiner Kindheit begreifen, wo sie nicht mal mit ihrer eigenen klarkam.
Manchmal mußt du einfach deinen Phantasien, zumindest den sympathischen, deiner inneren Stimme nachgeben, mußt ihre Ratschläge befolgen, wenn sie dir zum Beispiel zuflüstern: Na los, fahr hin, du hast doch da mal gelebt, bist dort aufgewachsen, na ja, vielleicht nicht ganz genau dort, macht nichts, versuch wieder rauszukommen aus den Niederungen da, und dann sehen wir mal, ob dein Geist, deine Erinnerung all die Wege wiederbeleben kann, die sich auf merkwürdige und unglaubliche Weise über deine persönliche Widerstandserfahrung gelegt haben, ab und zu mußt du deine Dämonen auf Urlaub schicken, sie entsteigen ohnehin Nacht für Nacht deinen Lungen wie Brieftauben ihren Schlägen und fliegen auf Strecken, die nur sie kennen; was hätte ich also dem Mädchen mit seinen Muskeln antworten sollen, he? Daß wir noch ein paar Stunden die gleiche Richtung fahren, wie ich das schon oft getan habe, und daß ich irgendwann nachts, wenn der Zug nicht entgleist und uns alle unter seinen Trümmern begräbt, umsteige und weiterfahre; daß ich in die Stadt will, in der ich aufgewachsen bin und auf die ich in letzter Zeit keinen Bock mehr habe, daß ich Freunde treffen will, die irgendwo da auf mich warten; daß ich absolut nicht scharf bin auf was Neues, daß ich einfach umsteige, von einem Zug in den nächsten, von einem Bus in den nächsten, immer eine andere Strecke, immer eine andere Fahrkarte, und ab und zu aussteige, um wieder einmal festzustellen, daß sich nichts verändert hat, daß alles so ist wie früher, wie immer, in bester Ordnung; daß sich auch nichts verändern konnte, wenn du dich nicht verändert hast. Und auch davon muß ich mich überzeugen. Ich konnte nicht richtig erklären, wohin ich wollte, sie würde das nicht verstehen, denn dort, wo für sie der Zug stehenblieb, blieb für mich die Zeit stehen, und ich konnte nur darauf warten, daß die Zeit sich wieder in Bewegung setzte, mit angehaltenem Atem warten, um sie nicht zu verschrecken, und da ich den Weg nur zu gut kannte, wußte ich genau, wie lange er dauert und wie er enden wird.
An der nächsten Station stiegen wir aus und holten Bier. Es war ein Uhr nachts. Ich glaube, es regnete. Oder nicht? Keine Ahnung. Egal.
2. Die Strapazen des ukrainischen Trampens.
Es gibt mehrere Möglichkeiten, halbwegs unbeschadet die 200
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