Anarchy in the UKR
zufällige Fernfahrer abgesetzt haben, sie haben mich rausgeschmissen und sind rechts abgebogen, ich stand zwischen den leeren Septemberfeldern, die eine Wärme verströmten – wie das Blut eines aufgeschlitzten Tiers, die Nächte waren schon kalt, aber tagsüber knallte die Sonne, ich war fast einen Tag lang unterwegs gewesen, und als ich an der Kreuzung ausstieg, hatte ich alles Schwarze und Schwere des zurückgelegten Wegs aufgesogen; ich stand auf dem grauen Asphalt und hörte den Vögeln zu, wie sie über meinem Kopf kreischten, sich zu ihrem Flug nach Süden sammelten, und auf einmal wurde mir klar, daß ich, wenn ich lange, sehr lange stehenbliebe, hören könnte, wie die Stimmen der Vögel leiser und leiser werden, bis sie verstummen, ganz und gar, und an ihre Stelle etwas anderes tritt, Stille zum Beispiel.
Aber irgendwie habe ich es nie lange an einem Ort ausgehalten, egal wie viele überraschende Anblicke sich mir in der Abenddämmerung oder im Morgennebel boten, wie viele verfallene Fabriken und überschwemmte Ortschaften, Mohnplantagen und Wehranlagen, Hafenkräne und herbstliche Gebirgsketten vor mir auftauchten, weder auf Berggipfeln noch auf Mohnplantagen hat es mich lange gehalten, obwohl vielleicht gerade dort mein Platz ist, vielleicht müßte ich genau das Stück Raum ausfüllen, das aufgrund meiner Abwesenheit immer mehr fremden Sauerstoff, immer mehr fremdes Licht einsaugt und damit einen Luftzug in der fest gefügten Weltordnung auslöst, aber trotzdem, ich halte nicht inne, der größte Fehler liegt darin, so tief wie möglich in den Raum eindringen, ihn so genau wie möglich auf den Filmstills der Erinnerung festhalten zu wollen, ihn pausenlos mit eigenen Erfahrungen zu mischen, ohne anzuhalten, denn bei jedem Halt könnte sich eine Falltür unter mir öffnen, eine Geheimluke, von deren Existenz ich die ganze Zeit wußte, mich nur gefürchtet habe, hineinzuschauen. Hielte ich inne, könnte ich feststellen, daß die Besiedlung des Raumes, die Inbesitznahme der damit verbundenen Erinnerung viel interessanter und faszinierender ist als die bloße Anhäufung von Räumen und das endlose Abspulen von Erinnerungen. Je öfter du unterwegs anhältst, je länger deine Pausen sind, desto größer ist die Chance, schließlich all die Details zu entdecken, die dir entgehen, wenn du nicht anhältst, das ist nicht einmal eine Frage des Blickwinkels, sondern der Geschwindigkeit deiner Bewegung, wenn ich anhielte, könnte ich entdecken, daß das nicht einfach die Änderung meiner Vorstellung von der Landschaft ist, sondern eine Änderung der Landschaft und damit auch meiner selbst.
Vor Jahren ist mein Bruder auf dieser Schnellstraße verunglückt. Er stieß mit irgendwelchen Yuppies zusammen, die auf seine Spur geraten waren, er hatte keine Chance, kam aber mit einem gebrochenen Bein davon, dafür war das Auto reif für den Schrottplatz; immer wenn ich an der Stelle vorbeikomme, denke ich, es müßte doch noch Spuren geben, schwarze Reifenspuren auf dem Asphalt, den eingedrückten Metallzaun, die zerfetzte Jeans im Straßengraben, Benzingeruch, Blut, da muß doch auch Blut sein, wenn es der Regen nicht weggewaschen hat, wahrscheinlich hat er es weggewaschen, mit Sicherheit.
Mein Bruder hatte schon etliche Unfälle, er fuhr alle seine Motorräder zu Schrott, es waren einige, er stürzte bei voller Fahrt, holte sich Schürfwunden, riß sich die Klamotten kaputt, stand auf und fuhr weiter, als wäre nichts gewesen, er hat so viele Autos gehabt, daß ich mich gar nicht an alle erinnern kann. Als ich klein war, wollte er mir das Autofahren beibringen, aber was er sich da in den Kopf gesetzt hatte, klappte nicht – Geschwindigkeit hat mir immer schon angst gemacht, bis heute, das kam wahrscheinlich daher, daß mein Freund und ich mal als Kinder betrunken eine schwere Ural mit Seitenwagen geklaut haben und damit über besagte einsame und holprige Schnellstraße bretterten, und als wir so richtig aufgedreht hatten, merkte ich, daß mein Freund, der übrigens am Steuer saß, eingeschlafen war. In einer Kurve flog die Ural von der Fahrbahn und landete zwischen zwei Strommasten. Wir überlebten und waren schlagartig nüchtern, aber ich habe Angst vor Geschwindigkeit, ich habe Angst zu reisen, nur anzuhalten, davor habe ich noch mehr Angst.
3. Der schlechte Dichter Sosjura.
Der Bahnhof von Swatowe ist morgens um vier still und schlecht beleuchtet. Soweit ich verstanden habe, hat hier irgendwo Sosjura gekämpft, in
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