Anidas Prophezeiung
Leibern ihre Behausungen und allerlei alltägliches Gerät zu zimmern. Die Kletterer sahen dem Treiben hilflos zu, denn die Fremden waren riesenhaft von Gestalt, wenn auch nicht ganz so riesig wie die Baumwesen.
›Warum wehrt ihr euch nicht gegen das Treiben der Fremden?‹, fragten die Kletterer. ›Ihr seid so viel größer und mächtiger als sie. Zerschmettert sie und vertreibt sie von hier.‹
Doch die Baumwesen wussten nicht, was Hass und Tod bedeuteten, denn sie existierten ewig, wenn sie nicht getötet wurden. Sie waren hilflos den Fremden ausgeliefert, und schließlich ergaben sie sich in ihr Schicksal. Sie nahmen Abschied von den Kletterern und trieben ihre Wurzeln tief in den Boden, in der Hoffnung, so dem Töten zu entgehen. Dann zogen sie ihren Geist zurück in das Herz, das tief in ihrer Brust verborgen war, und verstummten für immer.
Die Kletterer trauerten lange, lange um die Baumwesen. Und schließlich, in der Hoffnung, ihre Schöpfer und Freunde wieder erwecken zu können, schufen sie die fünf Herzen: Das Herz der Welt – das größte und mächtigste von ihnen –, das Herz des Feuers, das des Wassers, das der Luft und zuletzt das ihnen teuerste: das Herz der Erde, das sie als Einziges heute noch hüten.
Doch zu ihrer Enttäuschung konnten die Baumwesen selbst durch die vereinte Kraft der zaubermächtigen Herzen nicht erweckt werden. Die Kletterer weinten wie an dem Tag, als ihre Schöpfer sich von ihnen zurückgezogen hatten, und nahmen schweren Herzens endgültig Abschied von den Baumwesen. Aber eine Frau ertrug den Gedanken nicht, für immer von den Schöpfern getrennt zu sein. Sie verließ ihr Volk und ging fort, weiter, als je eine von ihnen fortgegangen war. Ihre Familie und ihre Freundinnen trauerten um sie, als sie nicht wiederkehrte, und schlossen sie in ihre Gedanken wie die von ihnen gegangenen Baumwesen.
Sie lernten, sich mit den fremden Riesen abzufinden, und einige von ihnen schlossen sogar vorsichtige Bekanntschaft mit einigen der Fremden. Sie erkannten, dass die Fremden nicht böse waren, sondern gedankenlos; blind und fühllos gegenüber allen Lebewesen, die nicht ihrem eigenen Volk angehörten. Doch einige wenige von ihnen waren in der Lage, zu erkennen, welches Leid sie verursacht hatten. Sie waren die Ersten, die Freundschaft schlossen mit den Kletterern. Sie bereuten zutiefst, als sie erkannten, was ihr Volk den Baumwesen angetan hatte, und sie gelobten, alles zu tun, um ihre schrecklichen Taten zu sühnen. Sie kehrten voller Trauer zu ihrem eigenen Volk zurück, berichteten, was sie erfahren hatten, und beschworen die anderen, alles zu tun, um den Kletterern zu helfen.
Die Kletterer fassten Hoffnung, dass ihren beiden Völkern vereint gelingen möge, woran die Kletterer alleine gescheitert waren. Sie lehrten die Fremden alles, was sie über die Schöpfung und die Schöpfer wussten, und sie lehrten sie sogar ihre Magie. Die Fremden zeigten sich gelehrig und höchst eifrig, das wieder gutzumachen, was sie in ihrer Blindheit angerichtet hatten.
Doch dann kehrte die Frau zu ihnen zurück, die Jahrhunderte zuvor fortgegangen war. Sie hatte in der Fremde das sechste Herz geschaffen und war nun zurückgekommen, um es gegen die Fremden zu wenden. Es war das Schwarze Herz, das Herz des Todes.« Ida sah voller Erstaunen die hellen Tränen, die der Grennach über die Wangen liefen.
»Das Herz des Todes kam mit furchtbarem schwarzem Feuer über die Fremden. Sie starben alle unter schrecklichsten Qualen, bis auf ein Mädchen und einen Jungen, die in den Wurzeln des ältesten Baumwesens Schutz gesucht hatten. Doch etwas von dem Feuer hatte sie beide erfasst, ehe sie sich dort verstecken konnten, und von da an waren sie und alle ihre Nachkommen schwach und sterblich. Als die Schreie der Sterbenden nach einer Ewigkeit endlich verstummt waren, krochen die Kinder aus ihrem Versteck und flohen.
Die Kletterer-Frau, die das Schreckliche entfesselt hatte, triumphierte. Doch ihre Freundinnen und Geschwister wandten sich mit Grauen von ihr ab. Sie verbannten sie mitsamt dem Schwarzen Herzen für alle Zeiten aus ihrer Heimat. Die Frau verfluchte sie und ging zurück, woher sie gekommen war. Und die Kletterer machten sich an die mühevolle und traurige Arbeit, die verkohlten Leichen ihrer ehemaligen Feinde und späteren Freunde zu beerdigen. Von der Zeit an waren sie alleine in den Bergen.«
Mellis schwieg. Ida griff impulsiv nach ihren schmalen Händen.
»Stimmt diese Geschichte?«,
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