Anna Marx 9: Feuer bitte
Hand vor den Mund, denn es war ein Schrei, und er sieht sie zum ersten Mal misstrauisch an. Sein Gesicht ist hart geworden, es liegt mehr darin als nur Liebenswürdigkeit und die leichte Sicht der Dinge. »Haben Sie getrunken? Wie heißen Sie überhaupt?«
»Anna Marx. Und Sie?«
»Martin Liebling. Sehr angenehm, wäre jetzt nicht die richtige Formel, oder? Was haben Sie gegen die Polizei?«
Ich habe vor einem Jahr einem Bullen in den Unterleib geschossen, denkt Anna, und dass es vielleicht klug wäre, dies nicht zu erwähnen. Die Wahrheit schmeckt nach Zyankali, und sie muss ihm das Gift in kleinen Dosen beibringen. Sie weiß nur nicht, wie. Schnell und schnörkellos: »Der Wagen ist nicht versichert. Er war abgemeldet.«
Anna sieht ihn an, während sie das sagt. Mit einem Blick, der um Gnade fleht, vielleicht sogar winselt. Sie hat schöne, grüne Augen, das weiß sie. Doch der Rest ist nicht unbedingt geschaffen, Männerherzen zu erweichen. Zu alt, sie ist fast einundfünfzig. Etwa sein Jahrgang, aber was heißt das schon im Geschlechterkampf? Dass sie ihn nicht gewinnen kann.
Liebling schweigt, als ob er ihre Worte verdauen müsste. Anna verordnet sich Demut und Buße. »Ich weiß, dass es dumm von mir war. Es tut mir so Leid. Aber konnte ich ahnen, dass ich einen Unfall baue, wenn ich einmal in zwei Jahren mein Auto in Bewegung setze? Ich zahle den Schaden, das verspreche ich. Polizei würde die Sache nur komplizieren … zumindest für mich. Ich unterschreibe alles, was Sie wollen.«
Sie schafft eine Träne, die, mit Mascara verbunden, über ihre Wange läuft. Er steht mit verschränkten Armen vor ihr, ein Fremder, der sie ruinieren wird, so oder so. Eigentlich ist es ihr egal, soll er doch die Polizei rufen, Anna hat keine Lust mehr auf bedingungslose Unterwerfung. Sie steht auf und zertritt die Zigarette mit der Schuhspitze. Rote Schuhe von Baldini, sie waren auch zu teuer. Für alles zahlt man, für jeden gottverdammten Fehler, und Anna könnte davon ein Lied mit vielen Strophen singen.
»Die Zigarette kann nichts dafür«, sagt Liebling, er ahnt ja nichts. »Also gut, lassen wir die Polizei. Aber es wird Sie eine Stange Geld kosten.«
»Spielt keine Rolle«, erwidert Anna, die vollkommen pleite ist. Seit Tagen, Monaten und Jahren. Seit sie ihren Job bei der Zeitung verloren hat und sich als Privatdetektivin durchs Leben schlägt. Marlowe lässt grüßen, aber der hatte zumindest aufregende Fälle, während sie sich überwiegend mit entlaufenen Katzen und Ehebrechern befasst. Nun, Marlowe ist eine Kunstfigur, und manchmal denkt Anna, dass sie auch eine ist. Erschaffen von einem Meister, der mit Verlierern Pingpong spielt. Sie ist einer seiner Lieblingsbälle, und dieser Aufschlag war zu hart. Sie würde gerne weinen, aus Selbstmitleid, und weil sie sich hier und jetzt vom Leben überfordert fühlt.
Martin Liebling hingegen sieht aus, als ob ihn wenig erschüttern könnte. Gut gefülltes Konto, gut gefüllter Bauch im guten Anzug, die richtigen Schuhe und ein nettes Auto, das schon mal besser ausgesehen hat. Warum musste er in dem Augenblick einbiegen, als sie für Sekunden unaufmerksam war? Shit happens, würde Sibylle sagen. Die beste Freundin, die ihr vielleicht Geld borgen kann. Bis Anna ihren Heiratsschwindler zur Strecke bringt und die Prämie kassieren kann.
»Eine schicksalhafte Begegnung«, sagt Liebling, während er sein Handy aus der Brusttasche holt. »Wir hätten beide tot sein können. Gott sei Dank bin ich einmal nicht zu schnell gefahren. Ich rufe jetzt den Abschleppdienst, wenn’s recht ist. Ich wage nicht, mir vorzustellen, was die Reparatur Ihres Wagens kostet. Meinen schätze ich so auf die zehntausend.«
Mark oder Euro? Anna bremst die Frage, bevor sie ihre Lippen erreicht. Sie winkt ein Auto weiter, das stehen blieb. Nein, sie brauchten keine Hilfe, keine Gaffer, kein Handy. Jeder hat heute eines, und Liebling weiß sogar die Nummer des Abschleppdienstes. Ein Mann, der alles im Leben unter Kontrolle hat, genauso sieht er aus. Eine schicksalhafte Begegnung? Sie wäre ihr zu gerne ausgewichen. Doch es ereilt dich immer, das Schicksal, weil du Fehler machst. Letztendlich ist es nur die Summe aller Dummheiten und Zufälle, und diese Summe ergibt null: den Tod. Ihm noch einmal entkommen zu sein, ist tröstlich, aber nicht glückbringend.
Ihr Crashpartner steht an seinem demolierten Wagen und telefoniert, während Anna ihr Auto ausräumt: Turnschuhe, eine Wasserflasche, leere
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