Anna Marx 9: Feuer bitte
glücklicher, daran glaubt Anna Marx, und zählt sich also zu jenen, die vielleicht kürzer leben, aber länger genießen. Sport ist Mord. Wenn sie über eine Stunde radelt, fühlt Anna sich schon fast olympiareif. Nun, sie wird zumindest nicht mehr Auto fahren. Berlins Straßen werden sicherer. Ist es Glück zu nennen, dass sie einen gerammt hat, der Liebling heißt?
2. Kapitel
Das Bier ist kalt, und die Buletten sind genießbar. Die Kneipe, die sie nach halbstündigem Fußmarsch fanden, ist vom alten, schäbigen Berliner Schlag, eine Orgie in holzgetäfeltem Mief, jedoch mit einem kleinen Garten, in dem Kastanienbäume Schatten werfen. Die lokalen Trinker stehen drinnen an der Theke, während Anna und Martin Liebling auf unbequemen Stühlen in der Sonne sitzen. Anna tankt Wärme, die sie braucht, um nicht zu frieren angesichts der finanziellen Lage, in die sie sich gefahren hat. Sie trinkt Bier in langen, durstigen Zügen.
Liebling hat sein Jackett über den Stuhl gehängt und seinen Bauch ihren neugierigen Blicken preisgegeben. Er ist annehmbar, ein sanft gewölbtes Monument des Genießens, und Anna weiß nur zu gut, dass nicht alles möglich ist: der perfekte Körper und die Erfüllung leiblicher Begierden.
Er ist ein Mann, der gut zuhören kann. Sie hat ihm auf dem Fußmarsch die Geschichte des MK II erzählt, es war ein Nachruf, den sie brauchte, um Bilder aus ihrem Kopf zu verbannen: Das Wrack an der Kette und auf dem Transporter, und das Letzte, was sie sah, war ein blaues Hinterteil mit einem ungültigen Nummernschild. Beide Wagen wurden in eine Werkstatt gebracht, die Liebling ausgesucht hat. Ihr ist es egal, Anna weiß, dass sie die Reparaturkosten für den Jaguar nie bezahlen kann.
Alkohol verflüssigt Skrupel, und Anna spricht aus, was nicht zu verschweigen ist. »Ich weiß nicht, ob ich das Geld auf einmal aufbringen kann. Wären Sie denn mit zwei, drei Ratenzahlungen einverstanden?« Du hast keine Wahl, Liebling, also sag Ja: Anna sieht ihm in die Augen und leckt sich Bierschaum von den Lippen. Ihr Glas ist leer, genau wie ihr Bankkonto. Der Kühlschrank, den sie letzte Woche kaufen musste, fraß das magere Guthaben. Anna lebt von der Hand in den Mund, und für unvorhergesehene Ereignisse gibt es keine Reserven aus bedrucktem Papier.
»Was machen Sie beruflich?«, fragt er, um Zeit zu gewinnen. In diesem Augenblick bereut er, dass er nicht doch die Polizei gerufen hat. Er ist ein Spieler, was daran liegen mag, dass er sein Geld zu leicht verdient. Doch dieses Spiel nimmt Wendungen, die ihm missfallen. Wie kann sie einen alten Jaguar fahren, wenn sie pleite ist?
»Freischaffende Detektivin«, murmelt Anna.
»Wie bitte?«
»Privatdetektivin. Schnüfflerin. Private Eye. Man kann davon leben … zur Not.« Anna wendet ihr Gesicht zur Sonne und schließt die Augen. »Und was tun Sie für Geld?«
»Berater, ich arbeite in Brüssel, habe aber hier meinen ersten Wohnsitz. Eine Riesenaltbauwohnung in der Potsdamer Straße. Ich habe sie von meiner Großmutter geerbt, und da ich sie nicht zu einem anständigen Preis vermieten kann, wohne ich halt selbst darin, wenn ich in Berlin bin.«
Der Ärmste. Annas Großmutter hinterließ einen Rosenkranz aus Elfenbein, das war’s auch schon. Berater von was und für wen? Anna denkt sofort an windige Geschäfte, sie hat eine kriminelle Phantasie. So ein dummes, kleines Vorfahrtsschild: Hätte es nicht ihn treffen können, wenn er schon so viel mehr hat als sie? Das Leben ist nicht fair. Das hat sie schon oft gedacht, und es ging weiter, das Leben, ohne Rücksicht auf Anflüge von Weltschmerz oder Zweifel an irdischer Gerechtigkeit.
Liebling scheint immer noch zu überlegen, wie er ihrer Bitte begegnen könnte. »Vielleicht kann ich mir das Geld auch borgen, es wird schon irgendwie gehen. Machen Sie sich keine Sorgen! Soll ich irgendwas unterschreiben? Ein Schuldanerkenntnis?«
Liebling nimmt einen Bierdeckel und zieht einen silbernen Kugelschreiber aus seinem Jackett. Er schreibt: Am 30. Mai hat Anna Marx Martin Lieblings Auto zu Schrott gefahren. Sie zahlt.
Er schiebt ihr den Bierdeckel hin, und Anna stutzt nur kurz, bevor sie lachend unterschreibt. »Jurist sind Sie offenbar keiner.«
»Doch, zumindest ansatzweise. Nachdem ich durchs erste Examen gefallen bin, habe ich mit Politologie weitergemacht. Ich mag Ihr Lachen. Sie sind die erste Detektivin meines Lebens. Sind Sie gut?«
Es gibt Fragen, auf die weder Wahrheit noch Lüge passen. Anna entscheidet
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