Aussicht auf Sternschnuppen
Arbeitsstellen zugewiesen wurden.“
Ich merkte, in welche Richtung die Geschichte einschlagen würde und fragte: „Und dieser Lorenzo! Sah er gut aus?“
„Muskulös, schlank, schwarze Haare. Die Mädchen im Dorf waren verrückt nach ihm.“
„Und er nach Ihnen, oder?“ Ich grinste.
„Ja. Das war er. Er nannte mich seine deutsche Rose – und damit spielte er wohl nicht nur auf mein Aussehen, sondern auch auf meine Stacheln an.“ Sie kicherte. „Wir wurden ein Liebespaar. Aber natürlich mussten wir das geheim halten. Die Schwiegertochter des Bürgermeisters und ein italienischer Zwangsarbeiter! Ein Verräter, der sich weigerte, für Deutschland weiterzukämpfen! Ein Skandal wäre das gewesen. Auch wenn ich beileibe nicht die einzige aus dem Dorf war, die versucht hat, die Einsamkeit der Kriegsjahre mit Hilfe eines warmen Männerkörpers zu überbrücken. Aber all das hatte sich daheim im stillen Kämmerlein abzuspielen und durfte nicht auf die Straße getragen werden.
Tja, und irgendwann war der Krieg vorbei und Hansi stand vor der Tür. Lorenzo war frei und durfte nach Italien zurück. Er flehte mich an, mitzukommen.“ Sie rang sich ein kleines, trauriges Lächeln ab. „Aber ich bin geblieben.“
„Warum?“
„Wegen Sonja. Ich hätte sie nicht mitnehmen können. Also bin ich geblieben und habe versucht, eine gute Ehefrau und Mutter zu sein. Aber das war ich nicht. Nicht mit dem Herzen. Und das hat Sonja gemerkt. Und das hat sie mir übel genommen.“
„Und deswegen hat sie den Kontakt zu Ihnen abgebrochen?“
„Nein, aber nachdem Hansi gestorben war, fühlte ich mich einsam in dem großen Haus. Ich bat Sonja, mich öfter zu besuchen, doch sie fand immer wieder eine Ausrede. Ständig war eines der Kinder krank oder sie bekam keinen Urlaub oder sie hatte schon etwas anderes vor. Irgendwann ist mir während eines Telefonats der Kragen geplatzt und ich habe ihr von mir und Lorenzo erzählt und dass ich ihren Vater nie geliebt hatte. Ich warf ihr vor, nur wegen ihr auf mein Glück verzichtet zu haben und dass sie mich als Dank dafür nun im Stich lassen würde. Sonja konnte mir nicht verzeihen, dass ich ihren Vater betrogen und ihr Bild von der heilen Familie zerstört hatte.“
„Und Sie haben ihn niemals wiedergesehen, Ihren Lorenzo?“
Lydia schüttelte den Kopf. „Nein. Aber wir haben uns geschrieben. Immer zu unseren Geburtstagen. Und nach Hansis Tod habe ich mir vorgenommen, ihn zu besuchen. Jedes Jahr aufs Neue. Aber ich habe es nie getan. Und irgendwann ist der Kontakt abgebrochen. Wissen Sie …“, sie beugte sich zu mir vor, „ich dachte immer, ich hätte noch so viel Zeit.“
Ich seufzte. Beneidenswert! Seit meinem 30. Geburtstag war ich fest davon überzeugt, keine Zeit mehr zu haben.
Lydia lehnte sich wieder zurück und verschränkte die Arme vor ihrer Brust. „Aber meine Krankheit hat mir gezeigt, dass ich keine 65 mehr bin und dass ich nichts mehr aufschieben darf. Ich möchte nach Paris fahren und mich auf die Spitze des Eifelturms stellen, ich möchte das Kolosseum in Rom sehen, den schiefen Turm von Pisa, die Themse und ich möchte noch einmal im Meer baden. Ich habe noch so viel vor. Aber ich muss mich beeilen.“
„Haben Sie Angst davor zu sterben?“ Ich weiß nicht, warum ich diese Frage stellte. Das Thema Tod war normalerweise ein Tabuthema und wenn man schon darüber redete, dann doch mit Menschen, die man kannte und die ihre besten Jahre noch vor sich hatten. Doch aus irgendeinem Grund war mir Lydias Antwort wichtig, vielleicht weil ich selbst solche Angst davor hatte zu sterben. Und sie schien sich an meiner Frage nicht zu stören.
„Nein. Denn in meinem Herzen fühle ich mich noch so jung.“ Sie tippte mit den Fingern auf ihre Brust. „So jung, dass ich mich, wenn ich morgens in den Spiegel schaue, manchmal frage, wer um Himmels Willen diese alte Schrapnelle vor mir ist.“ Sie kicherte. „Und das Gute am Alter, das werden Sie auch noch feststellen, Kindchen, ist, dass der Tod viel von seinem Schrecken verliert. Denn mit der Zeit wird es doch ein wenig einsam auf der Erde, wenn nur noch solch junges Gemüse wie Sie dort herumrennt. Und im Himmel würden viele Bekannte auf mich warten.“
„Hansi zum Beispiel.“
„Ja, Hansi.“ Sie seufzte. „Er war ein netter Kerl. Ein wirklich netter Kerl. Und ein guter Mann. Aber ich habe ihn nicht geliebt. Niemals. Ich hätte auf mein Herz hören sollen.“
„Und Ihr Herz hat Ihnen damals gesagt, dass Lorenzo
Weitere Kostenlose Bücher