Bevor mir der Tod die Augen schließt (Ein-Linnea-Kirkegaard-Krimi) (German Edition)
konnte. Sie sah sich um, denn sie war sich im Klaren darüber, wie merkwürdig diese Aktion auf Außenstehende wirken musste. Aber natürlich waren die Männer professionell, und man hatte sie nicht zufällig zwischen Auto und Kirche platziert. Von der Straße aus konnte niemand sie sehen. Und sie zweifelte immer stärker daran, ob die Beschattung Adèles durch den französischen Geheimdienst tatsächlich so effektiv war.
»Durch die grüne Tür und dann rechts die Treppe hoch!«
Der Chauffeur zeigte auf die Tür, durch die Adèle verschwunden war, und Linnea verließ die fünf Männer und ging auf die Tür zu. Sie brauchte sich nicht umzusehen, um zu bemerken, dass ihr einer der Männer folgte. Doch er begnügte sich anscheinend damit, vor der schweren Holztür, die mit dem Namenszug des dänischen Königs Christian V. geschmückt war, in Stellung zu gehen.
Die Tür führte in einen verblüffend hellen und schlichten Raum, wo Linnea sofort die kühle Luft innerhalb des alten Gemäuers spürte. Rechter Hand wand sich eine schmale Wendeltreppe in die Höhe, und das Schild daneben trug die Aufschrift »Glockenturm«. Unmittelbar vor ihr führte eine Glastür ins Kirchenschiff, das auf barocken Überfluss verzichtete und offen und modern war, mit roten Bänken und Ikonen an den Wänden. Leise Orgelmusik erklang. Irgendjemand übte sich an Bach, ganz verlassen war der Ort also doch nicht. Von Adèle dagegen keine Spur, und Linnea ging zu der Treppe und begann hinaufzusteigen. Die Treppe war schmal und die Stufen hoch, so dass sie ziemlich außer Atem war, als sie endlich oben im Turm ankam. Die sechs großen Glocken füllten ihr Blickfeld fast völlig aus, so dass sie Adèle nicht sofort sah. Sie stand mit dem Rücken zu Linnea und blickte über das Geländer hinweg auf den riesigen Hafen, der mit seinen kolossalen Frachtschiffen, Schwimmdocks und Kränen so nahe wirkte, als würde er direkt vor dem Kirchengebäude anfangen.
Linnea blieb einen Moment stehen und ließ alles auf sich wirken. Die Situation war so unwirklich, dass sie nicht anders konnte, als ihre vorgesehene Rolle in diesem absurden Schauspiel zu spielen. Sie räusperte sich, und die zierliche Frau drehte sich um und betrachte sie beinahe zärtlich. Sie stellte sich neben Linnea. Ein Hauch würzigen Parfüms drang durch Linneas verstopfte Nasenlöcher.
»Dein Vater war so stolz auf dich. Weißt du das eigentlich?«
Linnea konnte nicht antworten. Ihr brannte es in Nase und Augen, aber sie wollte nicht wie ein Schulmädchen schniefen und wandte den Kopf von Adèle ab, die gerade ein Taschentuch hervorholte.
»Er war kein Mann, der andere gern an sich heranließ, das weiß ich. Fast unfähig dazu, seine Gefühle zu zeigen. Aber du warst das Einzige in seinem Leben, worauf er stolz war.«
Linnea schwieg noch immer. Sie hatte mit allem Möglichen gerechnet, aber nicht damit. Erst als sie das Taschentuch sah, bemerkte sie, dass ihr Tränen die Wangen herunterliefen. Sie nahm das Taschentuch entgegen, das bereits Mascaraspuren von der Französin trug.
Adèle legte ihren Arm um Linneas Schulter und hielt ihren Blick fest.
»Was in der Nacht seines Todes passiert ist, werde ich mir nie verzeihen.«
*
»Die Dinge sind nie schwarz oder weiß, das müssten Sie als Polizist doch am besten wissen.«
Thor blicke Kintus Geschäftsführer an, und ihm fiel auf, wie sich das Gleichgewicht im Verhörzimmer rein physisch verschoben hatte. Während Gunnerus sich zurücklehnte, saß er selbst über den Tisch gebeugt.
»Sie wirken überrascht«, fuhr Gunnerus fort. »Aber wir können es uns nicht leisten, unseren Kooperationspartnern gegenüber allzu kritisch zu sein. Und das gilt nicht nur für unsere Organisation, sondern für alle, die Entwicklungshilfe leisten: das Rote Kreuz, Ärzte ohne Grenzen, CARE , Oxfam und so weiter.«
»Sie geben also ernsthaft zu, dass Sie mit afrikanischen Waffenhändlern zusammenarbeiten?« Thor schwieg einen Moment, bevor er weiterredete. »Soweit ich weiß, haben Sie gerade in Somalia drei Mitarbeiter verloren. In diesem Land wimmelt es nur so von Waffen, die sich in den Händen von Piraten und Terroristen befinden. Sollte man nicht lieber die bekämpfen?«
Gunnerus zog eine verärgerte Miene.
»Jetzt vereinfachen Sie aber die Dinge. Was glauben Sie, warum die somalischen Piraten ihr Leben riskieren, um in der Bucht von Aden Containerschiffe und Privatsegler zu kidnappen und alle anderen, die so unverantwortlich sind, sie zu
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