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Blendwerk - Ein Piet-Hieronymus-Roman

Titel: Blendwerk - Ein Piet-Hieronymus-Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: PeP eBooks
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Keulenschlag zwischen die Augen. Ich spürte, wie Ines mich losließ. Dann hörte ich sie schreien. Ich preßte die Hände gegen das Gesicht und torkelte hinaus.
    Reizgas ist nicht das gleiche wie Zwiebelschneiden. Es erzeugt ein Gefühl, vergiftet zu sein, seelisch zermürbt, sich aufzulösen wie eine Gliederpuppe mit verrotteten Gummigelenken. Man ist besinnungslos bei Besinnung, halb lebendig, halb tot, ohne daß beide Hälften ein Ganzes ergeben.
    Ich stieß gegen eine scharfe Kante. Es war wahrscheinlich die offene, in den Raum ragende Ladentür. Dann war ich draußen. Ich hörte Stimmen, hörte Automotoren. Es war kalt und stank nach Abgasen, aber die Luft hier kam mir dennoch wie reiner Sauerstoff vor. Den in meinen tränenden Augen verschwimmenden Konturen der Umgebung entnahm ich, daß ich mich auf dem Marktplatz befand. Ich wankte wie ein Betrunkener zu einer Bank und ließ mich nieder. Die elektrischen Kerzen des Weihnachtsbaumes drehten irre Kreise. »Fröhliche Weihnachten«, murmelte ich, während ich das Jojo eines quälenden Brechreizes in meinem Schlund zu kontrollieren versuchte.
    Ich weiß nicht mehr, wie lange ich so saß, zusammengekrümmt, immer wieder die Augen reibend, mit stechenden Kopfschmerzen und diesem Gefühl von Seekrankheit im Magen. Die ganze Zeit über hörte ich die näselnden Klänge eines Leierkastens in meiner Nähe. Ich hörte auch überlaut das Geräusch, mit dem zuweilen Geld in einen Teller fiel.
    Als es mir besser ging, war ich so durchgefroren, daß meine Zähne laut klapperten. Niemand hatte sich um mich gekümmert. Einige dick in Mäntel vermummte Gestalten standen in der Nähe und beobachteten mich. Als ich aufstand, wacklig und mühselig die ersten Schritte versuchte, die Arme mit den blaugefrorenen Händen unbeholfen wie ein Vogel, der in eine Ölpest geraten ist, zu schlagen begann, zerstreute sich die Gruppe. Der Mann mit dem Leierkasten war blind, jedenfalls behaupteten dies die schwarzen Punkte auf seiner gelben Armbinde. Er hatte einen Affen dabei, der mindestens so zu frieren schien wie ich. Ein kleiner, roter, zerzauster, angeketteter Kerl, der ein zerschlissenes Wams trug und den Passanten eine kleine Blechschüssel hinhielt, in die ab und zu ein Geldstück fiel. Ich rappelte mich auf und hielt dem Äffchen ein Fünfmark-Stück entgegen. Es fletschte die gelben Zähne und reckte mir das Gefäß entgegen. Als es klapperte, begann der Blinde, die Leier zu drehen. Die Melodie eines mir vertrauten deutschen Liedes erscholl. »Am Brunnen vor dem Tore«. Winselnd und voll schiefer Traurigkeit. Der Mann drehte zu langsam und außerdem ungleichmäßig. Schnee fiel in unnatürlich dicken Flocken mitten aus dem Himmel über uns.
    Ich ging zum Laden zurück. Die Tür stand immer noch offen, und ein beißender Geruch strömte mir entgegen. Da war niemand mehr drin, das war so gut wie sicher. Trotzdem rief ich ein paarmal laut: »Ines!« Meine Stimme kam von weit her und schallte an mir vorbei. Nichts rührte sich drinnen. »Ines!« brüllte ich noch einmal, dann ging ich.
    Ich fragte einen Passanten nach der Möglichkeit, einen Kaffee zu bekommen. »Da drüben«, hieß es, »im Schloßhof, das Kulturkaffee, das hat auf.«
    Das Untere Schloß war ein imponierender Renaissancebau, seine Fassade teilweise in einem Baugerüst verpuppt. Im Innenhof ein Schild, »Kulturkaffee«, handgemalt in Lettern, die zwischen Fraktur und Art déco einen abstoßenden Kompromiß versuchten. Es ging ein paar ausgetretene Sandsteinstufen empor in eine andere Welt.
    In den sechziger Jahren wäre das Kulturkaffee eine auch im Westen typische Studentenkneipe mit Galerie gewesen. An seinen lindgrünen Wänden hingen Bilder, die man zur Kategorie Pubertätstachismus rechnen konnte. Obwohl ungegenständlich, erinnerten die Motive an neblige Waldlichtungen oder Flußlandschaften im Spätherbst. Gelbe Töne überwogen, Linien und Klekse verliefen ineinander, muffige Moderne, wie ich sie selbst einmal als Pennäler in der Zeit der Milchbars und Diskussionen über Existentialismus an schwarzen Glastischen mit Chromleiste zuwege gebracht hatte. Hier hatte sich diese Atmosphäre perfekt konserviert, oder sie war gerade aus dem abgeschafften Realsozialismus hervorgegangen.
    Auch die wenigen Gäste paßten. Schwarze Rollkragenpullover, Raskolnikoffbärte, zerbeulte Kordhosen, leise und angestrengt monologisierende Stimmen, ein ratloses, existentialistisches Flackern in den Augen und jede Menge amerikanische

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