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Blendwerk - Ein Piet-Hieronymus-Roman

Titel: Blendwerk - Ein Piet-Hieronymus-Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: PeP eBooks
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ich ein graues Stück Fleisch frei. Es sah so aus, wie es schmeckte. Zäh und zugleich wäßrig.
    Dick grinste. »Ich sage dir, deinen Fehler macht man hier nur einmal. Das nächste Mal bestellst du auch Broiler. Weißt du übrigens, wer diesem Gericht den Namen gegeben hat?«
    Ich schüttelte kauend den Kopf.
    »Ein gewisser Friedrich von Holstein. Nach Bismarcks Tod der größte deutsche Außenpolitiker des 19. Jahrhunderts. Ist sie nicht genial, eine solche Kombination? Die Erbsen sind Rußland, das Ei ist England. Deutschland dazwischen setzt allem zähen Widerstand entgegen. Und dennoch wird es am Ende besiegt. Was davon in den Zähnen hängen bleibt, damit haben wir es heute zu tun.«
    Er lachte schadenfroh, mir aber fiel partout kein intelligenter Kommentar zu Dicks Worten ein. Seltsam, wie träge mein Geist neuerdings zu arbeiten schien. Aber wenigstens war der Korn gut. Er wurde als Doppelter in großen Gläsern ausgeschenkt. Wir bestellten noch eine Lage, und allmählich verlor das Bild der angefrorenen, abgehackten Schwimmfüße des Schwans seine Kraft.
    Nebenan brüllte die Stimme jetzt. Soweit ich es verstand, ging es darum, daß nur rote Bärte wirklich deutsche Bärte seien. Mein Bart war dunkelbraun. Und Dicks Bart schwarz wie der eines Türken oder Persers. Ich hatte meinen vor der Reise abgenommen, und Dick vergrub seinen in den Händen. »Ist dir schon aufgefallen, daß es in diesem Nest eine Renaissance der Schnauzbärte gibt?« sagte er. »Und überhaupt ist es ungeheuer gemütlich hier.«
    Dick erhob sich mit seinem vollen Schnapsglas, hielt es an die Brust wie jemand, der ein militärisches Zeremoniell vollzieht, und brüllte: »Ge-müt-lich!« Dann kippte er den Korn. Nebenan war es still geworden.
    Mein Freund setzte sich wieder. »Das ist meiner Meinung nach das deutscheste Wort, das es gibt. Keine Sprache hat ein gleichwertiges, jede Übersetzung muß scheitern. Sagen wir in unserer Sprache nicht lieber ›gesellig‹ für ›gemütlich‹, Piet? Es bedeutet bei uns dasselbe und doch gleichzeitig das Gegenteil.«
    Dick war nicht wiederzuerkennen. Es gefiel mir, wie er redete. »Weißt du, Piet...«, er hieb mir mächtig auf die Schulter, »weißt du, was ›Ge-müt-lich-keit‹ heißt bei den Deutschen, egal ob West oder Ost? Es heißt wohlige Einsamkeit, ja, nichts anderes. Das genaue Gegenteil von Geselligkeit. Nur in dieser Sprache gibt es das Gemüt. Wenn andere Nationen von Verstand, Gefühl, von Seele, von Vernunft reden, kommen die Deutschen mit Gemüt. ›Das schlägt mir aufs Gemüt‹, sagen sie, wenn ihnen was nicht paßt. Und sie ziehen sich zurück in diesen ekelhaft stillen, warmen Winkel, in das Loch hinter dem Ofen, das sie Gemüt nennen. Nur da ist es nämlich so richtig gemütlich.«
    Mein Freund war sichtlich beschwipst. Seine plötzliche gute Laune gefiel mir inzwischen schon nicht mehr so sehr. Dick erhob sich wieder, faltete die Serviette zu einem Schnauzer und klemmte sie sich unter die Nase. Dann rief er: »Ein Prosit der Gemütlichkeit.« Nebenan wurde gegrölt. Der Wirt stand mit verschränkten Armen hinter dem Tresen und rührte sich nicht.
    Der Betrunkene im anderen Zimmer begann zu singen, laut und falsch und unverständlich. Dick stand immer noch bewegungslos am Tisch, die Arme leicht abgespreizt, wie ein Catcher, der sich auf eine Attacke konzentriert. Der Wirt stellte das Bierglas, das er gerade polierte, mit einem vernehmlichen Geräusch auf die Theke. Dann brüllte Dick. Nur einen Satz. Einen harmlosen, wie mir schien: »Ich bin ein Emigrant!«
    Einige Sekunden lang kristallisierte eisige Stille im Raum. Sie fiel in feinen Nadeln aus. Dann hörte man Poltern. Der Betrunkene von nebenan erschien in der Tür. Sein rotverquollenes Gesicht erinnerte an eine Gummimaske. Er sah Dick aus kleinen Augen an. Es war dieser typische Blick, der nichts sieht außer der eigenen Angst, die sich in Haß verwandelt hat. Die Augäpfel sind nach innen verdreht. Was draußen liegt, ist der blinde Fleck gegenüber der Pupille, jene Stelle auf der Augenrückwand, die bekanntlich lichtunempfindlich ist.
    Seit ich mich erinnern kann, habe ich kein normales Verhältnis zu physischer Gewalt. Sie ist mir fremd. Ich kann mit ihr nicht umgehen. Zuweilen bedaure ich dies. Es ist vorgekommen, daß ich geschlagen wurde. Ich habe mich nicht gewehrt, weil ich die Schläge nicht begriff. Ja, ich glaube, Gewalt ist für mich ein Verständigungsproblem. Ich verstehe ihre Sprache nicht. Dabei

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